Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Walter Gasperi · 19. Mär 2013 · Film

Vergiss mein nicht

David Sieveking begleitet und porträtiert in seinem Dokumentarfilm seine an Alzheimer erkrankte Mutter und legt in der Begegnung auch behutsam die Geschichte ihres Lebens und ihrer Ehe offen. - Ein leichter Film über ein schweres Thema, ohne jeden Voyeurismus, eine warmherzige Liebeserklärung an die Mutter und das Leben und eine melancholische Reflexion über die Vergänglichkeit.

Schon in „David Wants to Fly“ hat David Sieveking radikal subjektiv über seine Beziehung zum großen David Lynch erzählt, hat sich dem Idol geändert und es auch demontiert. Während der Dreharbeiten an diesem Film erfuhr er, dass seine 70-jährige Mutter an Alzheimer erkrankt ist. Nachdem er die Familie über Jahre nur selten gesehen hatte, beschloss er eine Auszeit vom Job zu nehmen und sich intensiver seiner Mutter und seinem Vater zu widmen.

Nah dran, aber frei von Voyeurismus

Sieveking stellt grobkörnige Homevideos an den Beginn seines Films, die das Bild einer glücklichen und unbeschwerten Familie evozieren. Retrospektiv erzählt er in dieser Einleitung in persönlichem Kommentar von ersten Merkmalen des Gedächtnisverlusts, vom Umstand, dass die Mutter überall in der Küche Merkzettel aufklebte, dass es zu Weihnachten nur Suppe statt des traditionellen Mahls gab oder dass sein Geschenk vergessen wurde.
Melancholie, aber keine Schwere durchzieht diese Ausführungen, von denen Sieveking zum Beschluss die Mutter mit der Kamera zu begleiten und zu seinem Besuch überleitet. Unsicherheit und betretenes Schweigen bestimmen die Fahrt mit dem Vater vom Bahnhof, der erklärt, dass die Mama nicht mitkommen wollte und man das akzeptieren müsse. Zuhause findet David eine Frau vor, die nicht mehr weiß, dass dies ihr Zuhause ist. Liebevoll kümmert sich ihr Mann Malte um sie, auch wenn sich der Mathematiker die Pension anders vorgestellt hatte, sich der reinen Mathematik widmen und reisen wollte, jetzt mit der Pflege der Gattin und des Gartens aber vollauf beschäftigt ist.

Leben im Augenblick kontra Aufarbeitung der Geschichte der Eltern

Kurz informiert Sieveking über den früheren Beruf seiner Mutter, zeigt Versuche sie zu Aktivitäten zu animieren oder Besuche bei der Therapie, stellt aber auch fest, dass er im Grunde sehr wenig über die Eltern weiß. Damit sich sein Vater bei einem Urlaub in der Schweiz erholen kann, will sich der Sohn ein paar Wochen um die Mutter kümmern. Offen spricht Sieveking über die anstrengende Arbeit, liegt erschöpft neben der Mutter auf dem Bett und teilt mit, dass er nicht versteht, wie der Vater das geschafft hat. Dennoch beginnt er mit ihr Ausflüge zu machen, schließlich sogar bis zum Urlaubsort ihres Mannes in der Schweiz.
Während die Mutter immer mehr im Augenblick lebt, im Sohn den Mann und in ihrem Mann einen Fremden sieht, dringt Sieveking gleichzeitig immer tiefer in ihre Biographie und die Geschichte der Ehe seiner Eltern ein, blickt mit alten Familienfotos in die Kindheit der Mutter,  aber auch und vor allem auf ihr politisches Engagement als 68erin und die „Offene Ehe“, die sie mit ihrem Mann führte.

Bewegende Liebeserklärung an die Mutter

Liebevoll und warmherzig ist Sievekings Blick, dank seines Feingefühls und seiner Behutsamkeit trotz der Nähe aber nie voyeuristisch bloßstellend. Einerseits zeichnet er einfühlsam und bewegend das Porträt einer Frau, für die es nur noch die Gegenwart gibt, andererseits arbeitet er gerade mit Erinnerung und Geschichte, wenn er auf die Familiengeschichte blickt. Wunderbar fließen diese Gegenwärtigkeit auf der einen und die Erinnerungsarbeit auf der anderen Seite zusammen.
Nicht nur ein Film über Alzheimer, sondern vor allem eine Liebeserklärung an die Mutter ist „Vergiss mein nicht“ so geworden. Zwar spart Sieveking wirklich harte Szenen aus, zeigt aber dennoch, wie sich der Zustand der Mutter verschlechtert, wie eine Pflegerin eingestellt wird, die Mutter vorübergehend in ein Seniorenheim gebracht wird, dann aber vom Vater doch wieder ins gemeinsame Haus zurückgeholt wird.
So bitter dieser geistige Verfall auch ist, so gelingt es Sieveking doch, ihn mit warmherzigem Humor zu inszenieren, ihm – nicht zuletzt durch die Musik - alles Schwere zu nehmen, ohne dabei leichtfertig mit dem Thema umzugehen.