Faurés Requiem in Orgelversion gelang überzeugend in Koproduktion von Stella und Herz Jesu unter der Leitung des Graubündners Clau Scherrer. (Foto: Victor Marin)
Fritz Jurmann · 29. Apr 2024 · Konzert

Eine imposante Gemeinschaftsleistung

Carl Orffs singuläre „Carmina Burana“ im Kulturhaus Dornbirn

Den „Carmina Burana“, Liedern aus dem Kloster Benediktbeuron, komponiert 1937 von dem Münchner Carl Orff, haftet als Bilderbogen aus dem finsteren Mittelalter etwas geheimnisvoll Archaisches an. Zugleich ist dieses Werk bis heute eines der modernsten und aufregendsten Chor-Orchesterwerke unserer Zeit, vom Publikum weltweit geliebt und von den Ausführenden unter großem Einsatz verwirklicht.

Auch in Vorarlberg gab es Aufführungen, mit Elgar Polzers über 100-köpfiger Vorarlberger Oratorienvereinigung im Festspielhaus und später in einer Blasmusikversion unter Josef Eberle im Dornbirner Kulturhaus. Dieser Abend blieb vor allem deshalb in Erinnerung, weil damals Schülerinnen der Musikhauptschule Dornbirn, die den Kinderchor bildeten, wohl infolge der Aufregung während der Aufführung auf der Bühne reihenweise ohnmächtig umkippten.

180 Mitwirkende

Am Samstag hat nun erstmals das Jugendsinfonieorchester Dornbirn als Veranstalter zu einer Neueinstudierung der „Carmina Burana“ ins Kulturhaus geladen. Mit insgesamt über 180 Mitwirkenden waren auch hier weit über einhundert Sänger:innen beteiligt, aber umgekippt ist diesmal niemand. Dafür ergab der bis auf den letzten Platz besetzte große Bühnenraum ein buntes Bild von Sänger:innen und Musiker:innen jeden Alters, die sich in einer aufwendig ausgeklügelten Logistik und bewundernswertem ehrenamtlichen Einsatz mit Feuereifer an dieses Monsterprojekt wagten. Neben dem Jugendsinfonieorchester als Träger waren das in grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Kammerchor Lindau, der Dornbirner Chor „Mann O Mann“, der Rheinberger Chor Vaduz, der Vorarlberger Madrigalchor und die Chorklassen des Valentin-Heider-Gymnasiums Lindau. Einstudiert wurden diese routinierten Chöre durch Gabor Kozma, Ulrike Friedmann und Paul Faderny, der auch die Folgeaufführung im Juni in Lindau leiten wird.
Ihm als besonderem Kenner dieses Werkes kam auch die Aufgabe zu, den jungen Dirigenten Matthias Seewald, der eine Art Unbekannte in diesem Spiel darstellte, bei seiner Feuertaufe in dieses besondere Genre einzuführen. Denn eigentlich sitzt der 27-jährige Lustenauer seit Jahren als bewährter Posaunist in den Reihen des Jugendorchesters. Seinen Wechsel ans Dirigentenpult hat er nach einigen Versuchen bei Neujahrskonzerten mit einfacherem Repertoire der Entscheidung von Musikschuldirektor Ivo Warenitsch zu danken, der ihn inzwischen etwas überraschend als seinen Nachfolger mit der Leitung des Jugendsinfonieorchesters betraut hat. Dass dieser Abend mit einem Kaliber wie den „Carmina Burana“ auf Anhieb doch durchaus respektabel gelang, obwohl Seewald bislang als Dirigent keinerlei Erfahrung im Umgang mit Chören hatte, ist auch nach einer Ausbildung an der Stella durch Benjamin Lack erstaunlich. 

Zahmer Sturmwind

Verständlicherweise geht Seewald diesen Sprung ins kalte Wasser vorsichtig und eher zögerlich an. So bleibt der berühmte Eingangs-Hymnus „O Fortuna“ als Trade Mark des Werkes, der eigentlich als Sturmwind durch den Saal peitschen sollte, bloß ein laues Frühlingslüftchen. Das hätte für die mitreißende Signalwirkung alles mehr Tempo, Temperament und Leidenschaft vertragen und eine bessere Balance, damit der gut besetzte Chor auch im vollen Orchestereinsatz noch hörbar bleibt. Das bessert sich im Lauf des Abends zusehends, die Sicherheit des Dirigenten und seines Kollektivs nimmt spürbar zu, ebenso die Risikofreude für eine blutvoll inspirierte und teils auch inszenierte Version. Die penible Einstudierung des über einstündigen Monsterprojektes macht sich bezahlt. Nur gerät Seewald immer wieder ins Fahrwasser des zweihändigen Taktschlagens, wo die Linke doch für Einsätze und Dynamik vorgesehen wäre. Das wird sich geben.
Die Zuhörer im vollbesetzten Haus, die in einer Art Familienkonzert Kind und Kegel mitgebracht haben, werden allerdings den ganzen Abend lang über Werk und Besetzung im Ungewissen gelassen, nur Seewald erzählt vorab die Handlung der drei Bilder. Denn es gibt kein Abendprogramm – ein unprofessionelles Versäumnis des Veranstalters. Dabei hätte auch wie üblich ein Handzettel genügt mit den Chören, den Namen der Solisten samt Kurz-Biografien und dem Ablauf der einzelnen Chorteile und Arien des Werkes.

In Latein und Mittelhochdeutsch

Es gehört zu den Eigenarten der „Carmina Burana“, dass es nie den Versuch einer Übertragung der teilweise äußerst frivolen und blasphemischen Originaltexte in lateinischer, mittelhochdeutscher und altfranzösischer Sprache in eine heute allgemein verständliche Ausdrucksweise gab. Am meisten mühen sich wohl die Chorsänger:innen, die in diesem Fall ein Lied davon singen können, das aber mit Leichtigkeit weggesteckt haben. Das Publikum aber liebt seine „Carmina“ gerade auch in dieser Form und hat längst akzeptiert, dass es da eben nur „Bahnhof“ versteht und sich die Aussage und Wirkung der Texte über die einzigartige Vertonung durch Carl Orff offenbart. Dieser orientiert sich hörbar an der italienischen Renaissance eines Claudio Monteverdi, lässt seine knappen Melodien immer wieder kreisen und durch Synkopen rhythmisch aufbrechen und hält so die Spannung über eine Stunde lang am Köcheln.
Keine leichte Aufgabe zunächst für das mit wenigen Aushilfen zur großen Besetzung aufgefettete Jugendsinfonieorchester Dornbirn als Fundament des Ganzen. Es bleibt auch in dieser Form hellwach, reaktionsschnell und rhythmisch so sicher, wie man es von diesem Altersdurchschnitt erwarten darf. Für fast artistische Einlagen sorgt die stark besetzte Schlagzeuggruppe mit der bis zur Selbstaufgabe virtuosen Paukistin. Darauf bauen die präzisen, auch in Sauberkeit und Verständlichkeit gut gebrieften gemischten Erwachsenenchöre auf sowie der Jugendchor aus Lindau, der unisono in knallroten Kostümen der Farbe der Liebe im dritten Teil Ausdruck verleiht. Sie alle lassen in sprühender Lebendigkeit die drei großen Bilder lebendig werden, mit denen Orff in raffinierter Farbigkeit die Natur im Frühling, die Sauf- und Fressgier der Älteren und den Triumph von Amor und Eros von damals schildert.

Höchste Höhen erklommen

Besondere, auch theatralische Aufgaben übernehmen die drei hoch qualifizierten Solist:innen, die teils an österreichischen Bühnen wirken. Herausragend in ihrer Innigkeit mit der Traumarie „In trutina“ die Sopranistin Claudia Goebl, die mit ihrer Legatokultur beeindruckt. In spezielle Rollen schlüpft der Wiener Michael Havlicek und gibt ihnen mit seinem markanten Bariton Kontur, während der heimische Tenor Peter Cavall mit der jämmerlichen Arie des sterbenden Schwans in perfekt geführtem Falsett die Lacher auf seiner Seite hat.
Am Schluss wird nochmals an das philosophisch existenzielle Kernthema des Werkes mit dem sich unentwegt im Kreis drehenden Schicksalsrad der Göttin erinnert: „O Fortuna, unbeständig bist du wie die Gestalt des Mondes.“ Eine imposante Gemeinschaftsleistung mit spürbarem persönlichen Einsatz jedes Einzelnen der großen Sänger:innen- und Musiker:innenbesetzung, mit der dieses kräfteraubende Werk unter den gegebenen Möglichkeiten bestmöglich gestemmt wurde. Und dazu ein hoch begabter junger Dirigent, den man nach dieser Bewährungsprobe für weitere Aufgaben im Auge behalten sollte. Ihnen allen gelten der Jubel und die Standing Ovations des Publikums. 

weitere Aufführung: So, 16. Juni, 17 Uhr, Leitung: Paul Faderny 
Denkfabrik, Lindau