Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Gunnar Landsgesell · 10. Feb 2023 · Film

Die Aussprache

In einer mennonitischen Gemeinde häufen sich Fälle sexualisierter Gewalt durch die Ehemänner. Eine Gruppe von Frauen bespricht daraufhin, ob sie bleiben oder die Gemeinde verlassen sollen. Wie in einem Kammerspiel verfolgt der Film die letzten Vorbereitungen dafür.

Eine Frau wacht in der Früh auf, ihre Beine und die Bettwäsche sind blutverschmiert. Die Reaktion fällt nüchtern aus, dringlich aber gefasst. Man kann vermuten, dass hier ein sexueller nächtlicher Übergriff passiert ist, und das nicht zum ersten Mal. Schon kurz darauf hat sich in der Scheune eine Gruppe von Frauen versammelt, um die Lage zu besprechen: Wie soll auf die wiederholte Gewalt der Männer reagiert werden? Gibt es Hoffnung, zu bleiben, um die Verhältnisse tatsächlich zu ändern? Oder sollten die Frauen geschlossen die Gemeinschaft verlassen und sich woanders ein neues Leben aufbauen? Wie schwierig dieser Schritt wäre, lässt sich nicht nur an der emotional geführten Diskussion erkennen, der der Film auf hochkonzentrierte Weise folgt. Sondern auch daran, dass die Frauen weder lesen noch schreiben können. Ein junger Mann (Ben Whishaw) ihres Vertrauens, der selbst schon an den Rand dieser Glaubensgemeinschaft gedrängt ist, sammelt die Argumente und schreibt sie auf eine Tafel. „Women Talking" führt in eine Welt, in der die Zeit und damit die Geschlechterverhältnisse eingefroren scheinen. Der Ausschluss von Bildung ist im Film ein Instrument der Macht, das einen nicht nur an die Geschichte der Kirche denken lässt, sondern rezent auch an andere Weltgegenden. Afghanistan zum Beispiel. Auch die strenge, schlichte Kleidung der Frauen, deren Uniformität, erzählt von Unfreiheit. Die kanadische Schauspielerin und Regisseurin Sarah Polley hat sich dafür entschieden, den Konflikt und seine Lösung allein durch die Frauen zu erzählen. Ein interessanter Zug, weil Männer bzw. männliche Gewalt dadurch nicht individualisiert wird, sondern nur als strukturelles Problem verstanden werden kann. Ganz anders bei den Frauen: Die Scheune wird zum Forum, in dem der Aufstand geübt wird.

Die Sorge vor dem Aufbruch

„Women Talking" orientiert sich an realen Ereignissen, die vor Jahren in einer abgelegenen mennonitischen Gemeinde in Bolivien stattgefunden haben. Polley findet in ihrem stilistischen Minimalismus ein probates Mittel, um die Scheune zu einem Ort zwischen Konspiration und Prekarität zu machen. Von hier aus soll die Befreiung geplant werden, sofern sich die versammelte Gruppe der Frauen darauf einigt. Spannung wird auf zwei Ebenen erzeugt: durch deren inhaltliche Auseinandersetzung sowie äußerlich durch den Wettlauf mit der Zeit. Die geradezu unheimliche Absenz der Männer erzeugt ein Gefühl latenter Bedrohung. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der kanadischen Autorin Miriam Toews, das konzise Drehbuch hat Polley verfasst. Es umreißt nicht nur die teils hitzig vorgetragenen Argumente derjenigen, die gehen wollen, sondern auch die Ängste, die dahinter stehen. Jene, die forsch eine echte Zukunft einfordern wie Ona (Rooney Mara) oder Salome (Claire Foy), sind einigen der Frauen im Lager schon einen Schritt voraus. Etwa der zögerlichen „Scarface" Janz (Frances McDormand), die bleiben möchte. In den Diskussionen geht es letztlich darum, der eigenen Orientierungslosigkeit eine Richtung zu geben. Das beginnt ganz profan damit, dass niemand der Anwesenden Karten lesen kann. Sich selbst zu verorten ist zugleich ein wesentlicher Schritt um handlungsfähig zu werden. Polley lässt dabei Fragen einfließen, die von einer fundamentalen Erschütterung jeden Vertrauens erzählen. Etwa die Frage, ob die eigenen Söhne mitgenommen werden sollen. Falls ja, bis zu welchem Alter. Auch wenn „Women Talking" im Tonfall immer wieder theatral wirkt, funktioniert der Film auf kraftvolle Weise als Matrix für die Diskussionen unserer Zeit - von #MeToo bis zur männlichen Sozialisierung in einer immer noch patriarchal geprägten Gesellschaft. Polleys Inszenierung macht die blinden Flecken sichtbar.