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Peter Füssl · 26. Sep 2018 · CD-Tipp

Wayne Shorter: Emanon

Wayne Shorter hat seit den späten 1950-er Jahren bei Art Blakey's Jazz Messengers, in der zweiten Hälfte der 60-er Jahre im Miles Davis Quintet und ab 1970 mit Weather Report und mit einer ganzen Reihe prominent besetzter Bands unter eigenem Namen die Jazz-Geschichte maßgeblich mitgeschrieben. Im Alter von 85 Jahren lernen wir ihn nun von einer ganz anderen Seite her kennen: als eingefleischten Fan von Graphic Novels und Science Fiction Stories. Und das gleich in einem opulenten Ausmaß, denn sein jüngstes Werk "Emanon" erscheint in Buchform und besteht aus 3 LPs bzw. 3 CDs und einer vom amerikanischen Graphiker Randy DuBurke gestalteten, rund 80 Seiten starken Bildergeschichte.

Shorter hat in seiner Jugendzeit auch selbst Comics gezeichnet, überließ nun aber das bildnerische Terrain doch lieber dem in der Schweiz lebenden Profi und die Textausarbeitung der Schriftstellerin Monica Sly. Für den von Dizzy Gillespie entlehnten Titel "Emanon", "No name" rückwärts geschrieben, begeisterte sich Shorter schon vor siebzig Jahren auf seinen phantastischen juvenilen Gedankenreisen. Die Geschichte spielt in mehreren Paralleluniversen, die vom Superhelden Emanon, der seine philosophischen Ideen durchaus handfest untermauert, auf seinem Kampf gegen Ignoranz, soziale Eiseskälte und für die Freisetzung der individuellen Kräfte und des schlummernden Potentials der Bewohner durchstreift werden. Naturgemäß finden sich viele Lebenserfahrungen Shorters - von seiner von rassistischen Vorurteilen bedrohten Kindheit in Newark/New Jersey bis zu seinen buddhistischen Überzeugungen, die ihm über viele persönliche Tragödien hinweg halfen, in diesem phantastischen Plot wieder.  

Der Tenor-/Sopransaxophonist und Komponist selber widmete sich dann doch lieber seinem ureigenen Metier, der Musik. Auf der ersten CDs finden sich vier zwischen acht und fünfzehn Minuten lange Stücke, die sein fabelhaftes Quartett mit Pianist Danilo Perez, Bassist John Patitucci und Drummer Brian Blade gemeinsam mit dem 34-köpfigen Orpheus Chamber Orchestra vor fünf Jahren in der New Yorker Carnegie Hall erstmals präsentiert und dann gleich im Studio eingespielt hat. So knallbunt und vielschichtig, plakativ und geschmackvoll zugleich wie Randy DuBurkes Bilder, sind auch Wayne Shorters Klanggemälde. Das meiste wirkt soundtrackartig, ist vollkommen durchkomponiert und entfernt sich vom Jazz in Richtung Debussy, Bartók oder "Third Stream"-Komponisten wie Gunther Schuller. Nur von Shorter und Perez wird das zumeist spannungsgeladene orchestrale Geschehen improvisatorisch durchwoben und aufgelockert.

Auf zwei weiteren CDs finden sich Live-Aufnahmen des schon seit 2001 bestehenden und folglich bestens eingespielten Quartetts vom London Jazz Festival 2016 im "The Barbican"-Kulturzentum. Drei der vier Orchesterkompositionen werden hier nochmals in kleiner Besetzung und mit teils ausschweifenden Improvisationen präsentiert, in denen die Jazzer ihre ureigenen Fähigkeiten und individuellen kreativen Vorstellungen voll ausleben können. So gerät etwa "The Three Marias" mit guten 27 Minuten mehr als doppelt so lange wie die ursprüngliche Orchesterfassung. Mit "Lost And Orbits Medley", "She Moves Through The Fair" und "Adventures Aboard The Golden Mean" wurden drei themenverwandte Stücke in das Opus magnum einbezogen. Letzteres bewegt sich als einziges innerhalb dieses kreativen Taumels des Großmeisters in für Shorter-Verhältnisse eher konventionelleren Sphären. Da sich Visuelles und Musik schon im Entstehungsprozess wechselseitig beeinflusst haben - Shorter hatte beim Komponieren DuBurkes Entwürfe auf dem Tisch, DuBurke ließ sich von Shorters Kompositionen beim Malen inspirieren – wird "Emanon" entgegen allen Trends nur physisch erscheinen - also kein Download oder Streamen im Internet. Sehr sympathisch! (Blue Note/Universal)

Tipp: Dass "Emanon" nochmals auf die Bühne kommt, ist schwer vorstellbar. Aber da sich in den Geschäften schon die ersten Lebkuchen finden – dieses aufwändige, in jeder Hinsicht bemerkenswerte multimediale Gesamtkunstwerk macht sich gut als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum!