Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Peter Füssl · 23. Feb 2022 · CD-Tipp

Avishai Cohen: Naked Truth

Avishai Cohen meinte mal, er wolle bei Plattenaufnahmen nie auf älteres Material zurückgreifen, sondern sich stets vom Hier und Jetzt inspirieren lassen. So verarbeitete der israelische Trompeter im 2016-er Album „Into The Silence“ den Tod seines Vaters, 2017 in „Cross My Palm With Silver“ das aufgeheizte politische Klima in Israel und die verworrenen Verhältnisse im Nahen Osten, und es ist unschwer zu erraten, von welchen Stimmungen er im September 2021 nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie bei den Aufnahmen für „Naked Truth“ beeinflusst worden sein dürfte.

Die aus acht Teilen bestehende, improvisierte Suite wurde ohne große Vorbereitungen an einem einzigen Tag in den südfranzösischen Studios La Buissone eingespielt und von ECM-Chef Manfred Eicher produziert. Dabei bewegte sich Cohen wieder gänzlich von der Electronic-Trip-Hop-Ambient-Post-Rock-Jazz-Schiene seines letzten, überaus erfolgreichen Albums „Big Vicious“ weg und wieder hin zu seinem Akustik-Quartett von 2017. Pianist Yonathan Avishai, Kontrabassist Barak Mori und Drummer Ziv Ravitz (anstelle von Nasheet Waits) zählen zu seinen ältesten Weggefährten, was sich naturgemäß in den spontanen Improvisationen, im intuitiven Musizieren besonders positiv bemerkbar macht. Inhaltlich lässt sich „Naked Truth“ am besten vom finalen Stück „Departure“ her aufdröseln: Cohen rezitiert ein Gedicht der israelischen Lyrikerin Zelda Schneurson Mishkovsky, in dem es um das Loslassen unendlich vieler Dinge und Zustände und um das Akzeptieren des Todes geht. Folglich gibt es zwar auch strahlende Trompetentöne zu hören, aber eher als reizvoller Kontrast zu den verhalten suchenden, melancholisch aufgeladenen, rauen und mit Dämpfer geblasenen, sich immer wieder dramatisch steigernden und wieder verebbenden Passagen. Über weite Strecken wirken die intensiven Stimmungsbilder auf „Naked Truth“ wie der Soundtrack zu einem Film noir aus den 1950-er Jahren. Der technisch ungemein versierte Cohen gibt mit seinem reichhaltigen Repertoire an Ausdrucksformen auf der Trompete stets die Richtung vor und eröffnet atmosphärische Räume, die vom variantenreichen Tastenzauber Yonathan Avishais, der subtilen Perkussionskunst von Ziv Ravitz und dem dezent die Atmosphäre steigernden Bassspiel Moris ebenso kreativ wie einfühlsam ausgefüllt werden. Suspense, Surprise und Mystery – Hitchcock hätte seine Freude gehabt!

(ECM/Universal)