Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Peter Füssl · 25. Mai 2023 · CD-Tipp

Boygenius: The Record

Das Problem der meisten „Supergroups“ war, dass sie nur auf dem Papier funktionierten. Vielleicht weil sie nur aus wirtschaftlichen Überlegungen gegründet wurden, um die famosen Marktanteile der einzelnen Bandmitglieder noch optimaler zu nutzen, vielleicht weil sie sich mit ihren übergroßen Egos gegenseitig am liebsten über den Bühnenrand gestoßen hätten, um das Scheinwerferlicht nicht mit einem weiteren schon übermäßig Besonnten teilen zu müssen. Boygenius ticken anders, das ist hörbar und spürbar. Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus sind alle in den End-Zwanzigern, haben sich mit ihren gleichermaßen emotional eingängigen wie unverblümt kritischen Solo-Projekten längst als Singer-Songwriterinnen in der Indie-Folk-Rock-Szene einen hervorragenden Namen gemacht und gehen ganz offen und selbstverständlich mit ihren persönlichen LGBTQIA-Geschichten um.

Eigentlich kam die Idee zur Band erst, als ein Veranstalter alle drei für einen gemeinsamen Konzertabend buchte, sie schnell ein paar Songs schreiben wollten, um die Fans mit einem gemeinsamen Auftritt zu überraschen und dann überrascht feststellten, wie perfekt nicht nur die persönliche, sondern auch die künstlerische Chemie übereinstimmt. Die 2018 daraus entstandene EP mit sechs Songs machte schon deutlich, wie gut es ihnen gelingt, ihre Energien zu bündeln, ihre individuellen Vorzüge beizubehalten und gleichzeitig in ein größeres Ganzes einzubringen. Dann trieben die Damen aber doch lieber ihre Solo-Projekte voran und Corona animierte bekanntlich auch nicht dazu, neue Projekte in Angriff zu nehmen.

Das lapidar mit „The Record“ betitelte Debütalbum mag nun rein musikalisch vielleicht nicht sehr viel Neues bringen, ist aber mit seiner ausgewogenen Mischung aus ruhigen Folk-orientierten Songs, Mainstream-tauglichem Pop und krachenden Indie-Rock-Titeln absolut State of the Art. Den Opener „Without You Without Them“ präsentieren sie a-cappella als traditionell klingenden Dreigesang. Es war also kein Zufall, dass sie schon vor fünf Jahren für das Cover-Foto ihrer EP ein Plattencover der Harmonie-Giganten Crosby, Stills & Nash fotografisch nachstellten. Ehe es dann doch zu beschaulich wird, lassen Boygenius lieber beim alternativ-rockigen „$20“ ordentlich die Gitarren krachen, was wieder eine Erinnerung wachruft, denn für die Titelseite des amerikanischen „Rolling Stone“ posierte das Frauentrio kürzlich in Nadelstreif-Anzug und Krawatte und zitierte damit einen ikonischen Foto-Auftritt der Grunge-Götter Nirvana. Wo es wie hier hart zur Sache geht, hat Julien Baker das Sagen – etwa bei „Anti-Curse“ oder bei „Satanist“ („Will you be an anarchist with me? / Sleep in cars and kill the bourgeoisie / At least until you find out what a fake I am / Spray-paint my initials on an ATM”).

Lucy Dacus dunkles Timbre kommt beim einschmeichelnd-poppigen Love-Song “True Blue” und bei der unglaublich sanften Folk-Hymne „We’re in Love“ voll zur Geltung – auch mit eindrücklichen Sprachbildern: „You could absolutely break my heart / That’s how I know that we’re in love / I don’t need the symbol of a scar / So put down the knife / We are not swapping blood / Isn’t it enough / That we stripped down to our skin? / Cold and porcelain / Like bathers in a painting.” Das sich gleichermaßen selbstbewusst wie verletzlich präsentierende Frauentrio mit dem ironisch befrachteten Bandnamen arbeitetet sich natürlich nicht nur fotografisch an kultigen Übermännern ab, sondern auch in manchen Songs. So zitiert Lucy Dacus im folkigen „Leonard Cohen“ den genialen Barden und verpasst ihm gleichzeitig eine Breitseite: „Leonard Cohen once said / ‘There’s a crack in everything, that’s how the light gets in‘ / And I am not an old man having an existential crisis / At a Buddhist monastery writing horny poetry / but I agree”. Bewunderung und Ablehnung, Anziehung, Nähe und Distanz gehen oft Hand in Hand und auch mit selbstironischen Anflügen und sympathisch wirkenden Selbstzweifeln wird nicht gegeizt. Sie wissen um die Verdienste der weißen, alten Männer und bedanken sich im Booklet bei „Cool about it“ – dem vielleicht besten Simon & Garfunkel-Song, den das legendäre Duo nicht geschrieben hat – bei Paul Simon für die Inspiration.

Besonders intim und eindringlich wirken die Songs von Phoebe Bridgers, etwa „Emily I’m Sorry“, in dem sie sich mit eindrücklichen Bildern bei einer verflossenen Liebe verabschiedet, oder dem an einen imaginären Freund gerichteten „Revolution 0“. Mit sanfter Stimme hart zur Sache geht Bridgers auch beim Closer „Letter To An Old Poet“, der ziemlich unverblümten Schilderung einer toxischen Liebesbeziehung: „When you fell down the stairs / It looked like it hurt and I wasn’t sorry / I should’ve left you right there“. Ein Pop-Knaller ist „Not strong enough“ mit der nahezu endlos gesungenen Lamento-Textzeile „Always an angel, never a god“. Das kann man auf das Dasein der Frauen im Musik-Business, oder auf das Schicksal der Frauen im Allgemeinen münzen – Lucy Dacus, Phoebe Bridgers und Julien Baker haben sich aber nicht erst mit diesem formidablen Album aus diesem antiquierten Geschlechterrollen-Spiel herausgenommen.

(Interscope Records/Universal)