Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Karlheinz Pichler · 04. Jun 2020 · Ausstellung

Kunst ist ein ernstes Spiel - Geta-Brătescu-Retrospektive im Kunstmuseum St. Gallen

Ursprünglich war die Ausstellung für den Zeitraum von 25.4. bis 20.9. geplant, aufgrund der Corona-Pandemie wird sie nun erst am 9.6. eröffnet und ist bis zum 15.11. zu sehen. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir an dieser Stelle den Artikel, der bereits in unserer April-Ausgabe erschienen ist:

Die vor zwei Jahren verstorbene Künstlerin Geta Brătescu (1926–2018) galt als zentrale Figur der rumänischen Avantgardekunst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Anfänge ihres künstlerischen Schaffens in den 1940er und 1950er Jahren fielen in eine Zeit, in der das gesellschaftliche und politische Leben in Rumänien von heterogenen und intensiven intellektuellen Diskussionen geprägt war. Das Faktum, dass Brătescu die Zeit des politischen Umsturzes, der kulturellen und sozialen Wenden und des Zusammenbruchs des Kommunismus im Jahr 1989 aus nächster Nähe miterlebt hat, ist für das Verständnis ihrer wiederkehrenden Beschäftigung mit bestimmten Formen des künstlerischen Ausdrucks von essentieller Bedeutung.
Das Kunstmuseum St. Gallen widmet dieser großen Konzeptkünstlerin als erstes Schweizer Museum nun eine retrospektiv angelegte Ausstellung. Der Titel folgt dabei einem Zitat der Künstlerin: „L’art c‘est un jeu sérieux“ (Kunst ist ein ernstes Spiel). Mit ihrem künstlerischen Schaffen traf Brătescu die entscheidenden theoretischen und formalen Debatten ihrer Zeit und wurde damit zu einem zentralen Bindeglied zwischen klassischer Moderne und zeitgenössischer Kunst. Sie vertrat Rumänien 2017 an der Biennale Venedig und partizipierte in jenem Jahr auch an der Documenta in Kassel.
Brătescu studierte von 1945 bis 1949 Malerei bei Camil Ressu an der Universität in Bukarest. Anschließend absolvierte sie am selben Haus auch das Studium der Literatur und Philologie bei George Călinescu und Tudor Vianu. Ein Abschluss blieb ihr jedoch durch die aufkommenden Kommunisten verwehrt. Ihre Eltern führten eine Apotheke und mussten aus politischen Gründen ihr Geschäft abgeben. Ihre Mutter ging daraufhin ins Exil. Seit Mitte der 1960er Jahre lebte und arbeitete Brătescu permanent in Bukarest. Von 1969 bis 1971 wurde es ihr dann doch noch ermöglicht, am „Institut der Schönen Künste“ in Bukarest ihre Ausbildung abzuschließen. Seit dieser Zeit arbeitete sie an der Grenze zwischen Kunst und Literatur.

Das Atelier als Ort der Freiheit

In der rumänischen Hauptstadt durfte die Künstlerin ein kleines Atelier ihr Eigen nennen. Dies hatte in ihrem Schaffen einen eminenten Stellenwert. Es bedeutete für sie ein Ort der Freiheit. Hier konnte sie ihre verspielte experimentelle Konzeptkunst proben und weiter entwickeln.
Im „Daybook“ zur Documenta 14 (2017) in Kassel hielt die 1987 in Bukarest geborene Roma-Film- und Theaterschauspielerin und Autorin Alina Şerban zu diesem Atelier fest: „Beim Betreten des Ateliers umfängt mich ein totaler, ahistorischer Raum. Das Atelier spielt in Brătescus Werk eine zentrale Rolle – ein Raum in Bewegung, transformiert durch die Überführung von Bild in Handlung und vice versa, durch die Spannung zwischen Schauspiel und Schauspielerei, zwischen Selbstanalyse und Selbstauslöschung. Die signifikante Bedeutung, die das Atelier für Brătescus Arbeit hat, führt die Künstlerin zu knappen, präzisen Formen, gefangen in geometrischer Schlichtheit. Zum Erkunden der Beziehung, die zwischen dem künstlerischen Prozess und seiner physischen Umwelt besteht. Zu einer Choreografie, die sich auf die ,visuelle Gymnastik der Hand‘ ebenso erstreckt wie auf das Arbeitsmaterial (Hände und Gesicht der Künstlerin, Papier, Textilien) bis hin zur Anthropomorphisierung von Objekten. In der Serie ,Drawings with Eyes Closed‘ findet dieses Verhältnis zum Raum seinen vollendeten Ausdruck: ,Das Zeichnen vermittelt mir ein Gefühl der Freiheit. Ich zeichne, als würde ich durch einen leeren Raum gehen oder fliegen.‘“

Zeichnen ist wie durch einen leeren Raum fliegen

Die rumänische Künstlerin verwandelte mit ungeheurer Kreativität gleichsam alles um sich herum in Kunst. Dazu setzte sie alle erdenklichem Medien ein. Von der Collage, dem Cutout, Grafik und Künstlerbüchern angefangen bis zur Performance, zur Fotografie, Film, Objekt und Installation. Einzig die Malerei existierte für sie praktisch nicht. Materialien konnten gleichermaßen ihr Körper, gefundene Bilder und Muster, Papier, Stoff und Worte sein.
Die große Aufmerksamkeit Brătescus galt besonders der Linie, die von ihr stetig und auf immer neue Weise modifiziert wurde. In einem Nachruf schrieb die Zeitschrift Monopol 2018 dazu: „Losgelöst von der Fläche schwebt sie frei im Raum und ist zuweilen vollständig von ihrem Umfeld isoliert. Abstraktion ist das Werkzeug, mit dem Brătescu das Erlebte verarbeitet. Ihre dynamisch geschwungenen Linien, ihre groben Kreise und Rechtecke sind mehr als geometrische Figuren. Sie sind Sinnbild für ein Leben voller Gegenwehr, harter Arbeit und Hingabe. Die Leichtigkeit der vermeintlich unbefangenen Wechselbeziehung zwischen Raum und Linie ist geprägt von Brătescus Vergangenheit, vom Widerstand gegen die neostalinistische Diktatur Rumäniens.“    

Fotografische und filmische Aspekte im Fokus     

Die von Lorenz Wiederkehr kuratierte retrospektive Ausstellung zum Schaffen Brătescus im Kunstmuseum St. Gallen setzt einen Schwerpunkt auf den fotografischen, filmischen und performativen Aspekt des Werkes der Rumänin, der bislang noch wenig beleuchtet wurde. Wiederkehr: „Gerade hier ist die Künstlerin der internationalen Avantgarde besonders nahe. Neben collagierten Arbeiten auf Papier, fotografisch oder filmisch festgehaltenen Performances sowie repräsentativen Serien von Selbstbildnissen, bilden raumgreifende Installationen aus fragilen Materialien Bestandteil der Präsentation. Im Zentrum stehen dabei Werke aus den 1970er und 1980er Jahren, die formale Ähnlichkeiten mit zentralen Positionen des Postminimal aufweisen.“
Übrigens inspirierte Geta Brătescu als Pionierin der zeitgenössischen Kunst auch den St. Galler Designer Albert Kriemler zu seiner gefeierten Frühjahrs-/ Sommerkollektion 2019 für Akris, dem 1922 in St. Gallen gegründeten Schweizer Modehaus, welches international für seine hochwertige Damenbekleidung und Accessoires aus mongolischem Rosshaar bekannt ist.
Die Präsentation des eigenwilligen Kunstkosmos' von Brătescu im Kunstmuseum St. Gallen wurde gemäß den Angaben in enger Zusammenarbeit mit dem „Kunstforeningen GL Strand“ in Kopenhagen, der Ivan Gallery in Bukarest sowie der Galerien Hauser & Wirth realisiert und soll anschließend auch in Kopenhagen gezeigt werden.