Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Karlheinz Pichler · 09. Dez 2018 · Ausstellung

„Kohle ist auch Asche!“ – Der Künstler Manfred Bockelmann zeichnet gegen das Vergessen an

Der Kärntner Künstler Manfred Bockelmann, der in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden ist, widmet sich seit rund acht Jahren dem „Zeichnen gegen das Vergessen“. Bei diesem Zyklus, an dem er so lange weiterarbeiten will, wie er den Stift noch in Händen halten kann, handelt es sich um großformatige Porträts von Kindern und Jugendlichen, die der Tötungsmaschinerie des Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind und in den KZ und anderen Einrichtungen ermordet wurden. Bockelmann, der um neun Jahre jüngere Bruder des vor vier Jahren verstorbenen Sängers Udo Jürgens, will mit diesen Kohlezeichnungen, die unter die Haut gehen, „Zeichen gegen das Vergessen“ setzen. Es gehe ihm darum, „zumindest einigen wenigen Namen und Nummern Gesichter zu geben, ein paar Menschen aus der Anonymität der Statistik herauszuheben“, wie er selber sagt.

Begonnen hat Bockelmann diese Werkserie im Herbst 2010. Damals sei ihm bewusst geworden, dass sein 70. Geburtstag nicht mehr allzuweit entfernt sei und ihm möglicherweise eine Reihe retrospektiver Ausstellungen ins Haus stünden. Der Gedanke daran erfüllte ihn mit einer gewissen Art von Unzufriedenheit, da ihm noch etwas wirklich Wichtiges in seinem Werk fehlte. „Etwas, was Bestand und Bedeutung hat“, wie er selber sagt. Und so sei die Frage aufgetaucht, was mit den Kindern geschehen sei, die wie er um 1943 auf die Welt gekommen sind. Kindern, denen es nicht so gut ging wie ihm, der in einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie aufgewachsen ist. Die Kinder, die damals ins Gas mussten oder der Euthanasie zum Opfer fielen, hätten seine Freunde werden können. So begann der Künstler zu recherchieren. Unter anderem besuchte er das Richard Stockton College in New Jersey. Er fuhr auch nach Auschwitz, um die Anreise zum KZ gedanklich nachvollziehen zu können.


Die Verbrecher saßen auf der anderen Seite

Erkennungsdienstliche Aufnahmen, die nach der Ankunft der Kinder und Jugendlichen in den Lagern von den Nazis gemacht wurden, dienen Bockelmann als eigentliche Vorlagen für die Kohlezeichnungsporträts. Er fand sie in Archiven, Dokumentationen und Büchern. Die jungen Menschen wurden, in einheitlicher Lagerkleidung und mit Nummern oder Judenstern gekennzeichnet, abgelichtet wie Verbrecher. Nur dass die Unschuld, die aus den Gesichtern spricht, dazu völlig im Widerspruch steht. Die Verbrecher saßen auf der anderen Seite. Die Kinder und Jugendlichen sahen dem Bösen direkt in die Augen, als sie fotografiert wurden. 
Bockelmann bringt das Verheerende, das unvorstellbare Ausmaß der Verbrechen mit Kohlestift subtil ans Tageslicht. Wobei er aber keine Leichenberge zeichnet, sondern bewusst das Davor. Die unglaubliche Tragödie soll sich in den Köpfen des Betrachters abspielen.  

Rippig-brüchiger Strich


Kohle sei auch Asche, sagt er in Anspielung auf die Technik der Kohlezeichnung. Er führt den breiten Stift in horizontalen Linien über die grobe Juteleinwand. Weil das Material rau ist, wirkt der Strich rippig und brüchig. Die Striche erinnern an Streifen, an eine Jalousie, an Licht und Schatten. Dies, und aber auch das Großformat von 150 mal 110 Zentimetern, verleiht den Zeichnungen eine zusätzliche Dramatik und Lebendigkeit.

Dem Künstler geht es nicht darum, den Holocaust als Ganzes zu zeigen, sondern um darauf zu verweisen, dass ein jeder der insgesamt 1,5 Millionen von den Nazis ermordeten jungen Leute eine ganz persönliche Individualität hatte. Die solcherart aus der Vergessenheit Zurückgeholten, stehen stellvertretend für alle anderen. Bockelmann, dessen Mutter Käthe übrigens eine Schwester des Dadaisten Hans Arp war, sieht seine Arbeit als seismographisch an. Wobei die großen Emotionen, die mit diesem Schaffen Hand in Hand gehen, fließend und direkt über den Strich ins Bild gingen.

Die gezeichneten Kinder und Jugendlichen wurden zwischen 1941 und 1943 in Auschwitz-Birkenau, am Wiener Spiegelgrund, in Hartheim, in Theresienstadt und an vielen anderen Orten des Schreckens Opfer des Hitler-Regimes. Auch Sidonie Adlersburg, deren Leben in Auschwitz endete, befindet sich unter den Dargestellten. Es ist dasselbe Mädchen, wie es Erick Hackl in seiner Dokumentationserzählung „Abschied von Sidonie“ beschreibt.

Bockelmann gibt bei den Zeichnungen nicht an, aus welchen Ländern die Porträtierten stammen, nur Name und Alter und mitunter die Einrichtung, in der die Betreffenden ums Leben kamen. Aber unter den bislang 150 fertigen Porträts könnten durchaus auch Vorarlberger Kinder sein. Denn im Rahmen des Euthanasieprogramms (Aktion T4) der Nationalsozialisten wurde auch die Valduna in Rankweil geschlossen und die Insassen zum Teil nach Hartheim und Niedernhart deportiert und ermordet.

Aus dem privaten Familienalbum

Eine andere Quelle für die Zeichnungen waren Familienalben, die der Künstler entdeckte oder die an ihn herangetragen wurden. Der erstes Saal im Bildraum Bodensee ist solchen Album-Porträts gewidmet. Im Unterschied zu den anderen Zeichnungen, aus denen die Porträtierten ängstlich und völlig entwurzelt dem Betrachter entgegenschauen, blicken diese Kinder unbeschwert und unbekümmert drein, sind doch die Vorlagen dazu in privatem Umfeld entstanden. So könnte es sich etwa beim frisch geschniegelten, 14-jährigen Bernard Wajland, der tiefsinnig durch die runden Brillengläser guckt, um einen künftigen Albert Einstein handeln, während der 1933 geborene Roth Pal beim Üben auf seiner Violine gezeigt wird. Bockelmann hat diese jungen Leute auf die Rückseite der Juteleinwand gezeichnet. Daher ist hier der farbliche Grundton anders, bräunlicher. Jedoch ist klar, das auch von all den nach Fotos aus Familienalben gezeichneten Kindern kein einziges die Schreckensherrschaft der Nazis überlebt hat. 

Insgesamt sind im Bildraum Bodensee 28 Arbeiten des Zyklus „Zeichnen gegen das Vergessen“ zu sehen. Sie waren davor auf einer USA-Tournee, wo sie bei Stationen an einer Universität in Atlantic City und im österreichischen Kulturforum in New York vor allem Schüler und Studenten ansprechen sollten. Überhaupt ist es eines der Grundanliegen Bockelmanns, dass möglichst viele junge Menschen die Portäts sehen, damit auch sie, die dieser Zeit der Finsternis längst entrückt sind, das Erinnern daran weitergeben können. 
„Zeichnen gegen das Vergessen“, das auch als P
lädoyer für mehr Menschlichkeit und Empathie zu werten ist, ist übrigens ein Non-Profit-Projekt. Die einzelnen Werke sind nicht käuflich zu erwerben. Bockelmann will all diese Kohlestiftzeichnungen dereinst einer Stiftung oder einem Museum als Schenkung vermachen. An welche, ist derzeit noch offen.   

Manfred Bockelmann:
Zeichnen gegen das Vergessen

bis 1. März 2019
Di, Do 13-18; Fr, Sa 11-16
Bildraum Bodensee, Bregenz
www.bildrecht.at