"Mit einem Tiger schlafen": Anja Salomonowitz‘ Spielfilm über die Künstlerin Maria Lassnig derzeit in den Vorarlberger Kinos (Foto: Stadtkino Wien Filmverleih)
Michael Löbl · 20. Nov 2023 · Musik

Altersweisheit im Doppelpack

Die 82-jährige Starpianistin Martha Argerich und ihr Ex-Ehemann, der 87-jährige Dirigent Charles Dutoit, konzertierten am Samstagabend gemeinsam im Rahmen der Reihe TAK Weltklassik im Vaduzer Saal.

Es ist einfach ein Genuss zu beobachten, wie Charles Dutoit mit winzigen Handbewegungen das Eröffnungsstück, Maurice Ravels „Le Tombeau du Couperin“, zum Leuchten bringt und die Kombination von Musik des Barockkomponisten François Couperin mit impressionistischen Orchesterfarben vollkommen entspannt aus dem Ärmel schüttelt. Er weiß ganz genau, was ihm das Orchester von selbst geben kann und an welchen Stellen er doch noch minimal eingreifen muss. Ein wunderbar stimmungsvoller Konzertbeginn mit dem European Philharmonic of Switzerland (EPOS) und ein Sonderlob für den Ersten Oboisten, der in diesem Werk fast wie ein Solist behandelt wird.

Das Orchester mit dem etwas sperrigen Namen wurde von ehemaligen Mitgliedern des Gustav Mahler-Jugendorchesters gegründet und trifft sich jedes Jahr für eine kleine Konzerttournee. Unterstützt wird es unter anderem von zwei großen Schweizer Stiftungen. Das Resultat ist ein Klangkörper mit hervorragenden Musiker:innen, die aufgrund ihrer gemeinsamen Jugendorchesterzugehörigkeit nun alle zwischen 25 und 35 Jahre alt sind. Im besten Musikeralter sozusagen. Die Orchestergeschichte kennt man schon von anderen Ensembles, auch das Chamber Orchestra of Europe oder das Mahler Chamber Orchestra sind durch die Initiative ehemaliger Mitglieder von bedeutenden Jugendorchestern entstanden. Inzwischen sind die meisten Orchestermitglieder in verschiedenen europäischen Spitzenorchestern tätig, vom Philharmonia Orchestra London bis zum Gewandhausorchester Leipzig oder der Oper Zürich. Mit Charles Dutoit und Martha Argerich war das EPOS bereits 2018 einmal unterwegs.
Damals durchlebte Charles Dutoit eine schwierige Zeit. Er leitete 25 Jahre lang als Chefdirigent das Orchestre Symphonique de Montréal, welches er zu einem internationalen Spitzenensemble formte. 2017 wurde ihm von vier Musikerinnen im Zuge der #MeToo-Debatte „inappropriate behavior“ vorgeworfen, daraufhin verlor er von einem Tag auf den anderen sämtliche Engagements in Europa und den USA. Auch sein Vertrag als Music Director des Royal Philharmonic Orchestra London wurde einvernehmlich aufgelöst.

Freiheit des Alters

Bei Martha Argerich zittert man – also sowohl der Veranstalter als auch das Publikum – ob sie wirklich auftreten wird, denn sie galt schon immer als schwierig. Aber sie kam, sah und siegte! Nach einer kleinen Irritation über die Höhe des Klavierhockers (wer bitte würde es wagen, nach der Probe daran herumzuschrauben?) stürzte sie sich mit unglaublicher Verve mitten hinein in Robert Schumanns Klavierkonzert op. 54. Und das auf dem brandneuen Steinway-Flügel des Vaduzer Saales, der durch Martha Argerich angemessen eingeweiht wurde. Bei ihr ist alles vollkommen unverändert: Technik, Musikalität, Klang und Gedächtnis. Auffallend ist eine große Freiheit in Bezug auf Rhythmus und Agogik, was gut zu Schumann passt, dem Dirigenten und dem Orchester das Leben allerdings deutlich erschwert. Besonders bei Steigerungen bestand die Gefahr, nicht immer gemeinsam beim Schlusston anzukommen. Martha Argerich im Konzert zu erleben, ist jedoch zweifellos ein besonderes Erlebnis, sie ist eine der größten Pianistinnen der Geschichte und spielt im Alter von 82 Jahren mit derselben Hingabe wie vor dreißig oder vierzig Jahren. Unglaublich. Das Publikum im Vaduzer Saal regierte enthusiastisch und wurde mit einer Gigue von Johann Sebastian Bach belohnt.       

Intensive Interpretation

Nach der Pause dann Beethovens Symphonie Nr. 7, op.92. Weder vom Orchester noch vom 87-jährigen Dirigenten erwartete man eine Neudeutung dieser äußerst populären Symphonie, auch von bisher unentdeckt gebliebenen musikwissenschaftlichen Details war nicht auszugehen. Und gibt es diese neuen Erkenntnisse überhaupt noch, nach Leibowitz, Harnoncourt, Gardiner, Järvi oder Norrington? Oder ist zu Beethoven mittlerweile alles gesagt? Charles Dutoit und das EPOS boten eine brillante, musikalisch untadelige und energiegeladene Interpretation. Details waren ihnen weniger wichtig als der musikalische Fluss und die Intensität dieser Musik. In Erinnerung bleibt der wunderschön-traurige zweite Satz, vollkommen ohne die unpassende Hektik, mit der man ihn derzeit immer wieder zu hören bekommt.
Begeisterter Applaus.