Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Niedermair · 28. Apr 2021 · Aktuell

Tage der Utopie 2021 – 26.4. Vortrag und 27.4. Workshop-Vormittag - Wie kommt das Neue in die Welt? Lasse Rheingans: Der 5 Stunden-Tag

Das Programm der diesjährigen Tage der Utopie vom 26. April bis 1. Mai 2021 hält zahlreiche Anregungen bereit, zu denen Interessierte sich jederzeit auch noch per Live-Stream zuschalten können. Die Kultur – Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft hat im April Heft d.J. ein Gespräch mit dem Mental Master Mind der Tage der Utopie, Hans-Joachim Gögl veröffentlicht. Wiederum, wie bereits in der langjährigen Planung und Organisation mit dem mittlerweile pensionierten Josef Kittinger, gibt es absichtlich keinen thematischen Schwerpunkt; es geht vielmehr darum, zu aktuellen brennenden gesellschaftlichen Problemen Denkerinnen und Denker einzuladen, die ihre Ideen präsentieren. Dies ist eine Stärke der Tage der Utopie, dass es also keinen Schwerpunkt im Bereich der Ökonomie und Ökologie gibt, auch nicht im Sozialen, sondern über die sechs Abende der Woche Fragen zu ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Arbeit und Digitalisierung, Artenvielfalt, Dorf- und Stadtentwicklung, Erfindung, Gestaltung, Innovation und wie das Neue in die Welt kommt, wie man utopische Narrative erzählt, damit diese eine Faszination entwickeln. Der zweite große thematische Schwerpunkt beschäftigt sich mit Strategien des Wandels und fragt nach den Werkzeugen und Kompetenzen, um gesellschaftliche Transformation organisieren zu können; fragt auch nach der Angst. Diesen Themen und Fragen nach den Strategien des Wandels will man Raum zum Zuhören geben.

Von der Lust an der Debatte

In der AMBACH Kulturbühne in Götzis sind zu jedem Vortrag täglich 100 Personen zugelassen, die Plätze sind längst ausverkauft, auf www.tagederutopie.org findet man das Programm der Vorträge und der Workshops, dort gibt es auch den Link zur Anmeldung für die online Vorträge.  Das Programm als Doppelspiel, live-stream und vor-Ort, findet große Resonanz, auch bei den Sponsoren. Diesmal neu dabei ist die in Hamburg erscheinende Wochenzeitung „Die ZEIT“. Ansonsten sieht man zahlreiche Interessierte aus nah und fern, Leute, die immer schon aufgetaucht sind und die die Tage der Utopie als einen der innovativen Diskursorte kennen und schätzen. Täglich beginnt das Vortragsprogamm nachmittags hybrid ab 16 Uhr mit ca über tausend Teilnehmenden. Zunächst werden Projekte visionärer Praxis vorgestellt. Die Aufzeichnungen bleiben dann eine Woche stehen. Um 17 Uhr eröffnete Hans-Joachim Gögl unter Beachtung aller Covid-19 Sicherheitsmaßnahmen vor 100 Personen in der Kulturbühne AMBACH; der erste Vortragende Lasse Rheingans fragt nach der Utopie des 5-Stunden Tages, ein höchst interessantes Projekt, nicht nur weil es an den Schnittstellen zu den relevanten Arbeitszeitfragen angesiedelt ist, sondern eine ganze Palette von grundsätzlichen Fragen aufwirft,  vom Sinn der Arbeit bis zur gesellschaftlichen Wertschöpfung, vom Lob der Faulheit und dem müßiggängerischen Leben.  Bereits in der Diskussion nach dem Vortrag, der wiederum von zwei fantastischen Musikstücken eingesäumt war, spürte man diese gesehnt-gewohnte Lust an der Debatte, die Lust am Widerspruch, an Rede und Gegenrede, gar nicht primär mit der Idee, dass wir uns einig sein müssten, sondern dass es nur diesen Raum gibt, diese Magie der Tage der Utopie, wo die Infrastruktur des Austausches zur Verfügung gestellt ist. Als freies Gut. Diese Tage der Utopie verleiten zu einem Denken ohne Geländer, wie es Hannah Arendt einmal benannte.

Die Rolle der Musik

Die Musik zu allen Vorträgen, davor jeweils eine Auftragskomposition und nach dem Vortrag ein freies Improvisieren, als Echo, schafft eine zweite Ebene des Nachdenkens, öffnet Räume ins Freie. Alle Beiträge sind zum Nachlesen in der Bibliothek der Tage der Utopie publiziert und werden plus einer CD angeboten. Tage der Utopie-Composer in Residence 2021 sind Juri de Marco und Christoph Reuter, zwei grandiose Musiker; der erstere träumte davon, die traditionelle Musikwelt zu verändern, von Orchestern ohne Dirigenten und von kunstübergreifenden Benefizkonzerten. 2015, mit 22 Jahren, setzte er seine Träume um, stellte ein Benefizkonzert für Nepal in Berlin auf die Beine, gründete das genre- und dirigentenlose, auswendig und stehend spielende „STEGREIF.orchester“ Berlin. Er gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten Klassischer Musik. Im Stehen werden wir uns einer anderen Art zu spielen gewahr, ist er überzeugt. Wenn man ihn auf der Bühne sieht, weiß man warum.  Der zweite, Christoph Reuter, ist ein hervorragender Pianist, der sein Instrument mit einem energetischen Repertoire spielt, das man sich wünschte, er würde nie mehr aufhören. Der eine am Klavier tanzt eingangs die Tasten hinauf, lockt sich im Echo das Horn, trippelt aufgezählt an den Fingern der rechten Hand, auf fünf, spaziert in lichte leichte Höhen, expansiv im Echolot des späten Nachmittags, rhythmisiert weite Bögen, das Klavier unterläuft wie ein dahinschwebender Papierflieger fast alle Schwerkräfte, pianissimo, klettert wie ein Kind auf der blauen Spielzeugleiter in den jungen Abend hinein, on the run out, beschleunigt, fugenhaft-bachisch, durch eine Karawanserei, laut und fetzig angeschoben, fugitive pieces, geht auf, wie die Sonne am Morgen hinter den Bergen, aber nur weil Chantecler, der Hahn, kräht, damit sie aufgeht, und piano, leise, zum Ausklingen im Konzertsaal sich niederlässt, um zuzuhören.

Wie soll das gehen – eine 25-Stunden-Arbeitswoche?

Thomas Matt von der Arbeiterkammer Feldkirch, ein im Land geschätzter Journalist, stellte den Referenten vor und spannte den Bogen auf. Lasse Rheingans, aus dem „Paradies der Werktätigen“, wollte kürzer und weniger arbeiten und begann vor vier Jahren mit der Geschichte eines Versuchs. Bis 2017 hatte er sich in seinem Job aufgerieben, lähmende Sitzungen erlebt, bis er die Reißleine zog und das Rheingans Experiment startete. 8-13 Uhr. Mittlerweile ist das Rheingans Prinzip weiterhin im Modus des Wandels, die Agentur will längst nicht mehr nur Agentur sein und über ganzheitliches Denken mit neuen Arbeitszeitmodellen und den Unwägbarkeiten experimentieren. Das Projekt ist eine Spielwiese für Bedenkenträger, hat sich verändert und konfliktreich wie –freudig anspruchsvoll hunderte Fragen aufgeworfen, die bis heute (an)halten. Man fragt sich, wie soll das gehen, eine 25-Stunden-Arbeitswoche bei vollem Gehalt und Urlaub? Das kann doch gar nicht gehen. Doch, und wie das geht! Lasse Rheingans wagte in seinem eigenen Unternehmen das Experiment und blieb nach einer Testphase dauerhaft bei dem Modell. Denn das überraschende wie überzeugende Ergebnis war eine höhere Produktivität in kürzerer Zeit. Der Bielefelder Experte für digitalen Wandel sagt, wenn wir auch in Zukunft erfolgreich sein wollen, müssen wir Arbeit komplett neu denken.

Wie wollen wir leben

Aus der Perspektive des Besuchers dieser Tage der Utopie und von der Atmosphäre her betrachtet war es ein besonderer Genuss mit Menschen zu sitzen und einem spannenden, rhetorisch exzellenten Vortrag zuzuhören.  Lasse Rheingans aus Bielefeld, aus der Digitalbranche, lebt mit Familie, zwei Kindern, mit Verantwortungen, Freuden und Konflikten, konfrontiert wie viele von uns mit Tendenz zu viel Arbeit, spürt, wie er aus der Firma herauskommt und stellt fest, so wolle er das ja gar nicht. Daraus leitet sich die Überlegung ab, die wir uns im weitesten Sinne alle stellen. Wie wollen wir leben und wie wollen wir arbeiten. Alle diese Überlegungen sind eingebettet in die Fragen der Globalisierung, des demografischen Wandels, der Digitalisierung und Individualisierung, der Pandemie und der Konnektivität. Das führt uns die VUKA-Welt im oberflächlich Pauschalen  vor Augen: Volatilität, Unsicherheit und eine komplexe Welt voller Ambiguität. Und seit Jahren beschwören alle, die sich über die Zukunft der Arbeit Gedanken machen, „diese dystopische und beängstigende VUKA-Welt. Die Covid-19-Pandemie zeigt auch den letzten Zweiflern: Wir sind schon mitten drin. Wie Bauklötze fallen Betriebe um, und zwar längst nicht nur kleine und kapitalschwache, die niemals daran dachten, eines Tages von einer politischen Anweisung wie ‚Social Distancing‘ zur Strecke gebracht zu werden.“ Seite 11, Tage der Utopie. Neue Formate für eine gute Zukunft. Hg. Hans-Joachim Gögl, 2021. 2017 hat Lasse Rheingans mit dem Experiment begonnen und die Arbeitszeiten aller Mitarbeiter*innen auf fünf Stunden täglich bei gleichbleibendem Gehalts- und Urlaubsanspruch reduziert. Derzeit arbeiten alle in der Firma im Homeoffice, was gut funktioniere und beweise, dass weder Arbeitszeit noch –ort feste Größen für den Erfolg sind. Doch was unbedingt zählt, das ist die Beziehungs- und Fehlerkultur und das wertschätzende Miteinander auf Augenhöhe.

Das New Normal

Im Workshop am darauffolgenden Dienstagvormittag, 27.4., moderiert von Clemens Schedler, spricht Lasse Rheingans zunächst über betriebsrelevante Paradigmen und wirft u.a. die Frage auf, wie sinnvoll es denn sei, wenn man wächst, was denn der Schmierstoff dieser ökonomischen Fragen sei, wodurch und wie ein Ego zwischen Fragen des Privaten und Familiären getrieben sei; dabei skizziert er pointiert mit einem weiten Rundumblick den größten Paradigmenwechsel, der im Flaschenhals entstehe. Die Fünf-Tage-Woche mit den fünf Stunden ist alles andere als einfach, zumal im Hintergrund eine Reihe von Erkenntnisprozessen ablaufen.  Menschen arbeiten individuell und ebenso individuell funktionieren die Tagesabläufe. Eine von vielen Fragen sei, wie man den Umgang mit den Kindern so organisieren kann, dass im Sozialen alle wachsen, wie schafft man mit ihnen das Arbeiten, wenn man frei ist, sich den Bewegungen anzupassen. Man sei besonders achtsam, erkenne die Fürsorgepflicht. Deshalb kann der Betrieb auch keine Präsenzpflicht brauchen, sondern lege die klar geregelte Verantwortung in die Hände der Mitarbeiter*innen, es gebe eine „definition of done“, dann würden Potentiale frei. Womit die Frage entstehe, wieviel Disziplin es brauche. Wir müssen verbindlicher sein, sagt Lasse Rheingans, das sei ein Anspruch, verlässlich sein und Verantwortung übernehmen, um Abläufe und Standards gut zu klären. Man arbeite und entdecke Lösungen, wenn es für alle gut sei, was heute nicht geschafft werde, verschiebe man auf den nächsten Tag, die fünf Stunden müssten reichen. Dabei werde die Zeit an sich nicht kontrolliert. Es gibt nicht, wie in der Klassischen Zeit der Industrialisierung eingeführt, die großen Uhren in den Betriebsräumen, wie sie uns aus Filmen von Charlie Chaplin in Erinnerung sind. Ein solches Klima schaffe ein hohes Commitment der Mitarbeitenden und entsprechenden Produktivitätsgewinn. 

Was macht gutes Leben aus?

Es geht um einen guten Job, doch nicht Arbeit ist der höchste Wert. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Arbeit hat sich im Laufe der Zeit verändert. In einem Land wie diesem, in Vorarlberg, in dem es so etwas wie ein beinahe protestantisches Arbeitsethos gibt, wiewohl man / frau hier nie protestantisch war, sind solche Fragen durchaus gefährlich. Wobei es nicht um ein naives Herunterspötteln von zweifelhaften Sinnsprüchen wie „schaffa, schaffa Hüsle boua …“ geht. Wer Sinn in der Arbeit sieht, macht sie auch lieber.  Was ist Qualität? Und wie haben sich die Inhalte der Leistung gewandelt? Jedes Projekt dauert so lange, wie viel Zeit es braucht. Wie können sich die Leute im Betrieb am besten einbringen? Warum sind Zeugnisse eigentlich egal, wenngleich das gesamte traditionelle Bildungssystem auf diesen Paradigmen aufgebaut ist. Welche Rolle spielt die Qualität der Beziehungen? Was treibt an, was begeistert? Kann man Leistungen miteinander vergleichen? Arbeit bemessen? Was mich als Mensch zufrieden macht, fühlt sich nicht als Arbeit, sagte eine Teilnehmerin im Workshop. Vielmehr gehe es darum, Potentiale freizulegen, den individuellen Charakter zur Entfaltung bringen, eine offene Kultur und dialogischen Austausch zu pflegen, offen von sich sprechen, was einem bewegt und umtreibt. Beziehungsarbeit ist für gelingendes Arbeiten ganz zentral ebenso wie der Mut, Themen zu enttabuisieren. Daneben braucht es viel Zeit zum Reflektieren und die Einsicht, dass in Change Prozessen der Wandel das Ständige ist. Gemeinsame Zeiten zum Austausch müssten wir einplanen, in Beziehungsarbeit investieren. Mitarbeiter*innen aufrichten, damit in diesen fünf Stunden täglich ein guter Energielevel und eine gute Beziehung zu sich selbst entstehen kann. Eine bunte Fülle an Fragen …

Der Vortrag ebenso wie der Workshop mit Lasse Rheingans waren gleich zum Auftakt dieser Tage der Utopie 2021 eine große Bereicherung: An Ideen, an Offenheit des Denkens, der Klarheit der Worte und des Kommunizierens; deutlich wurde auch, dass der kulturelle Wandel der Arbeitswelt den Menschen wertvolle Impulse zu geben vermag. Weil wir dann beginnen, andere Formen der Beziehung zu uns selbst zu entwickeln und uns fragen, nach welchen Qualitäten wir streben, uns überlegen, was wir alles brauchen und nicht brauchen, um glücklich zu sein. Lasse Rheingans ist Autor von „Die 5 Stunden Revolution – Wer Erfolg will, muss Arbeit neu denken“.