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Ingrid Bertel · 14. Nov 2015 · Aktuell

Eine Frage der Liebe - In einer beeindruckenden Feier wurde auf dem Bregenzer Sparkassenplatz das von Nataša Sienčnik gestaltete Deserteurs- und Widerstandsmahnmal enthüllt

Viele Menschen, die sich an diesem Vormittag auf dem Sparkassenplatz versammeln, wirken wie erschlagen. Gekommen sind sie, um jene Frauen und Männer zu ehren, die sich dem nationalsozialistischen Terror widersetzt haben. Doch in der Nacht wurden in Paris 127 Menschen von Terroreinheiten des Islamischen Staats ermordet. Menschen, die einfach nur ein Fußballspiel, ein Konzert, ein Restaurant besucht hatten. Niemand verwendet die bei derartigen Anlässen sonst so beliebte Formel „nie wieder“. Es ist so fürchterlich klar, wie dünn die Decke von Demokratie und Zivilgesellschaft geworden ist.

Fallblattanzeige


„Platon glaubte einst, dass das Wort Heros (Held) vom Worte Eros (Liebe) stammte“, beginnt die Philosophin Agnes Heller ihre Festrede, und fügt trocken hinzu: „Schlechte Philologie, doch gute Philosophie.“ Denn Heldentum habe wahrlich viel mit Liebe zu tun. Es bedeute, dass ein Mensch das, was ihm wichtig ist, zurückstellt für eine Liebe, die größer ist als alles andere. Und Heller zählt VorarlbergerInnen auf, für die das zutraf: Hilde Meisels Liebe galt „dem zukünftigen, vereinigten, sozialistischen, gerechten und friedlichen Europa. Sie starb für diese Zukunft.“ Ernst  Volkmanns Liebe galt Gott und dem missbrauchten Vaterland. Josef Anton Kings Liebe galt den leidenden Mitmenschen, und August Weiß liebte den Frieden, die Freiheit und die Demokratie. Diese und  über hundert weitere Namen finden sich auf dem von Nataša Sienčnik gestalteten Mahnmal, einer Fallblattanzeige, wie sie früher auf Terminals und Bahnhöfen üblich war. Die in regelmäßigen Abständen herunterfallenden Buchstaben nennen nicht nur Namen und Lebensdaten, sondern auch Ort und Grund für die Widerstandshandlung.
Das macht sichtbar, dass es jetzt möglich ist, sich öffentlich mit einem über Jahrzehnte tabuisierten Thema auseinanderzusetzen, der Desertion. Seit 2008 setzt sich das Personenkomitee „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“ für ein öffentliches Zeichen der Anerkennung des Unrechts ein, das Wehrmachtsdeserteuren vor und nach 1945 angetan wurde. 2011 erinnerte eine Ausstellung im Kulturhaus in Dornbirn an sie - damals äußerten die Grünen und die Historiker der Johann August Malin-Gesellschaft den Wunsch nach einem Denkmal für die Opfer der NS-Justiz. Und sie wurden aktiv. Im November 2014 schrieb die Stadt Bregenz einen Wettbewerb zur Gestaltung des Mahnmals aus. Das Siegerprojekt überzeugte nicht allein die Jury – es ließ am Tag seiner Enthüllung niemanden kalt.

Die klare, schlichte Installation an einem zentralen Ort der Stadt, erschließt sich auch dem Flaneur. Sie ist dezent hörbar, sie ist klar lesbar, es ist unmöglich, sie nicht zu verstehen. Sie ist so unprätenziös, so kraftvoll, wie es auch die Festrede Agnes Hellers war.

Anständigkeit


„Unser Held war von Anbeginn Sokrates“, meinte diese, „ein Mensch, den seine eigene Stadt zum Tode verurteilte, weil er nicht die Götter der Polis ehre, weil seine Ideen seinem Gewissen angemessen waren, weil er seiner Idee, seinen Gedanken, seinem Gewissen treu blieb.“ Man kann das auch Anstand nennen, und Heller nannte es mit großer Absicht Anstand, denn wo alle Werte auf den Kopf gestellt sind, gibt es doch auch – und auf den Fallblättern sind die Namen zu lesen – den einzelnen Menschen, „der keinen Meineid schwört, der den Unschuldigen zu töten verweigert, der seinem Mitmenschen hilft und dessen Leben rettet.“

Lange Zeit wurden Wehrmachtsdeserteure als Feiglinge verachtet. Dass es sehr viel mehr Mut brauchte zu desertieren – denn darauf stand die Todesstrafe - als weiter zu wursteln (und weiter zu morden), das verschwiegen vor allem jene, die ihre oft zitierte „Pflicht“ getan haben.

Wer sich in den sozialen Netzwerken umsieht, kann bemerken, dass sich an dieser Einstellung offenbar wenig geändert hat. Im September stürzte ein syrischer Flüchtling mit einem Kleinkind auf dem Arm an der ungarischen Grenze, weil ihm eine Kamerafrau ein Bein gestellt hatte. Schon zuvor hatte die Frau ein kleines Mädchen mit wuchtigen Tritten in den Unterleib misshandelt. Die Bilder gingen um die Welt. Das spanische Ausbildungszentrum Cenafe suchte nach dem Syrer und bot ihm einen Job in seinem angestammten Beruf an, als Fußballtrainer. Happy End? Nicht nur, denn nun wurde in den sozialen Netzwerken die Dreckschleuder gezückt: Osama Abdul Mohsen sei ein Verbrecher, ein Extremist, ein Deserteur. Weil er vor dem Terror des Islamischen Staats floh.

Es gibt eine große Unsicherheit in Europa. Was uns noch vor Wochen an eine weltoffene, tolerante Zivilgesellschaft glauben ließen, ist ins Wanken geraten. Wenn jetzt Terroristen morden, wird das Wanken noch bedrohlicher.  Umso notwendiger ist es, darüber nachzudenken, welche Werte wir verteidigen. Und dass Desertion aus einer verbrecherischen Militäreinheit ein Akt des Anstands ist.

Es war wohltuend, wie der Bregenzer Bürgermeister Markus Linhart die Enthüllung des Deserteurs- und Widerstandsmahnmals gestaltete: In einer überraschend persönlichen Rede sprach er von seinem Vater, der in den allerletzten Kriegswochen als 16-jähriger der Einberufung zur Wehrmacht nicht Folge leistete, der sich um seine kleine Schwester kümmerte statt um die Front. Er zog den Vorhang vom Werk Nataša Sienčniks. „Ein Mahnmal mahnt uns“, hatte Agnes Heller gesagt. „Vielleicht, wer weiß, werden wir es noch brauchen.“ Ja, wir brauchen es, und es tut gut, dass es dieses Mahnmal in Bregenz gibt.