„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Peter Füssl · 04. Jun 2018 · Tanz

Zum Dunkelsten in sich selber vordringen, um das Licht zu sehen – tanz ist Festival Spielboden: Interview Shailesh Bahoran

Shailesh Bahoran, in Surinam geborener und in den Niederlanden aufgewachsener Sohn indischer Eltern, zählt zu den interessantesten Tänzern und Choreographen, da sich in seinen Arbeiten Breakdance und indische Tradition sehr durchdacht und auf höchstem tänzerischem Level treffen. Am Spielboden wird seine Erfolgsproduktion „Aghori“ ihre Österreichpremiere feiern. Tanz ist Festival-Mastermind Günter Marinelli zählt den 35-Jährigen zu den ganz besonders zukunftsträchtigen Individualisten: „Die choreografischen Werke von Shailesh Bahoran sind nicht nur virtuos, sondern auch eine spannende Reaktion auf die sichtbare Müdigkeit im europäischen Tanzgeschehen. Die in die Jahre gekommenen Ikonen der zeitgenössischen Choreografie in Europa fallen langsam von ihren Sockeln – sie sind ästhetisch, inhaltlich und politisch überholt. Die Kombination von Gegenwartsreflexion und einer tiefen Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition und Kultur sind ein Schlüssel für zukünftige Tanzentwicklungen. Und wenn – wie bei ‚Aghori‘ – noch eine stark spirituelle Dimension dazukommt, ist etwas Überraschendes und Authentisches zu erleben. Die Sehnsucht danach ist gegenwärtig sehr groß.“

Breakdancer mit 15

 

Peter Füßl: Du hast Deine Karriere als Breakdancer in den Niederlanden gestartet, wie ist es dazu gekommen, gibt es frühe Einflüsse?

Shailesh Bahoran: Ich begann mit 15 zu tanzen. Ich lebte in Utrecht, ein Freund klopfte an meine Tür und sagte: „Shai, Du musst mit mir in die Fußgängerzone gehen. Dort zeigen ein paar Typen verrückte Tänze und Tricks.“ Das waren die niederländischen Breakdancer der ersten Generation, die in den frühen 80-ern begannen und Ende der 80-er Jahre wieder aufhörten. 1998 starteten sie neu. Also ging ich in die Fußgängerzone und sah, wie sie sich auf den Köpfen drehten und unglaubliche Bewegungen machten. Da ging mir ein Licht auf und von dem Moment an wusste ich, dass es das ist, was ich tun wollte. Von diesem Tag an ging ich jeden einzelnen Tag hin, nachdem die Läden geschlossen hatten, und trainierte. Nach zwei Monaten kam einer vorbei, der Events organisierte, und fragte uns, ob wir auftreten wollten und ob wir einen Namen hätten. Wir sagten natürlich gleich zu, und einer sagte, wir hießen „ILLUSIONARY ROCKAZ CREW“. So wurde unsere erste Performance nach zwei Monaten Training Realität. In den folgenden Jahren nahmen wir bei zahlreichen Battles erfolgreich teil und machten auch kommerzielle Sachen. Aufgrund dieses Erfolges wagten wir uns 2003 an unser erstes theatralisches Werk.

 

Reise in das kulturelle Erbe

 

Füßl: Du bist in Surinam zur Welt gekommen, Deine Vorfahren stammten aus Indien. Wann hast Du damit begonnen, Deine hindustanischen Wurzeln zu erforschen, und wie hat sich das auf Deine Arbeit ausgewirkt?

Bahoran: Ich kam als kleiner Bub in die Niederlande. Bei mir zuhause haben wir aber bis heute all diese hindustanischen Dinge, – sei es die Sprache, das Essen, die Rituale, Musik oder Filme. Nachdem ich im westlichen Lebensstil aufgewachsen bin, war es für mich schwierig, einen Anknüpfungspunkt zu meinen eigenen Wurzeln zu finden. Da ich Zugang zur Hip-Hop-Kultur gefunden hatte, fühlte ich, dass ich dort hingehörte. Aber eines der wichtigsten Elemente der Hip-Hop-Kultur ist es, deren Ursprünge und Wurzeln zu kennen. Über die Jahre hinweg wurde das Forschen nach den Ursprüngen ein wichtiger Teil von mir, und ich begann tiefer als nur bis zu den Hip-Hop-Wurzeln zu graben und begab mich auf die Suche nach meinen eigenen Wurzeln: Wer bin ich? Warum unterscheidet sich mein Bewusstseinsstand von jenem meiner westlichen Freunde? Warum sind meine Familienmitglieder so, wie sie sind? So begann die Reise in mein kulturelles Erbe zurück, und ich durchlebte meine Vergangenheit nochmals mit einem ganz besonderen Bewusstsein, was das Puzzle meines Lebens und meiner Ursprünge plötzlich sehr viel deutlicher erscheinen ließ. Dies kam alles meiner Leidenschaft für den Tanz zugute. Damals tanzte ich für unterschiedliche Compagnien, und nach den Shows ergab sich – wenn ich die Möglichkeit hatte, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen – ein klares Muster. Sie machten mir alle Komplimente für die Art und Weise, wie ich Elemente des klassischen indischen Tanzstils in meine Bewegungen, in die Arbeit mit meinen Händen und in den Ausdruck einbaute. Das war natürlich eine weitere Motivation für mich, genauer zu untersuchen und herauszufinden, worüber all diese Leute redeten. Damals war ich ungefähr 22 Jahre alt.

 

„Aghori“ – nicht nur die Außenseite der Muschel sehen

 

Füßl: Der Titel „Aghori“ verweist auf eine tausend Jahre alte, sehr radikale Hindu-Sekte. Die Tänzer schauen sehr archaisch aus, haben etwas Wildes und Rohes an sich, aber natürlich ist auch diese Sehnsucht nach einer spirituellen Dimension spürbar. Ungezügelte Energie und stille Meditation – ist das der Gegensatz, aus dem Deine Choreographie diese enorme Spannung und Anziehungskraft bezieht?

Bahoran: Ja, ich glaube, die Antwort ist bereits in Deiner Frage enthalten. Die Aghori suchen den Weg zu den tiefsten und dunkelsten Elementen in sich selbst, damit sie das Licht am Ende des finstern Tunnels finden können. Sie stellen sich all diesen Dingen, denen die anderen Menschen lieber den Rücken zukehren, und zwar mittendrin, um sie wirklich überwinden zu können. Die Aghori glauben, dass wir in einer Illusion leben, und dass alles eins und eins alles ist. Deshalb ist es kein Unterschied, ein Stück rohes Fleisch zu essen oder ein Stück Schokolade. Ihre Aufgabe ist es, all diese Schlingenfallen wie Hass, Zorn, Gier, Angst oder Ignoranz zu überwinden. In meinen Arbeiten möchte ich den Menschen auch die Außenseite der Muschel zeigen, wie wir sie aus einer westlichen Perspektive sehen und was wir fühlen, wenn wir die Aghori beobachten. Sie sind verrückt, geisteskrank, eklig, böse, entrückt, psychotisch – aus einer westlichen oder unwissenden Perspektive gesehen. Aber die wirklich schwierigste Aufgabe ist es, ihren Intellekt zu zeigen, ihren Bewusstseinsstand, den Frieden, ihre Motivation, die Disziplin, ihr Ziel, die Erleuchtung zu erreichen. Ja, ich will immer die Schönheit meiner Themen aufzeigen, aber niemals, ohne den Zuschauern bewusst zu machen und sie auch fühlen zu lassen, welchen Prozess die Darsteller durchwandern müssen, um diesen Punkt zu erreichen.

 

Jeder von uns hat seine extremen Seiten

 

Füßl: Manche Sequenzen versprühen die Atmosphäre von irgendetwas Kultischem, Rituellem, das für unseren am 21. Jahrhundert orientierten Intellekt nicht wirklich verständlich ist. Wie wichtig ist Dir diese geheimnisvolle, undefinierbare Dimension und wie reagiert das Publikum darauf?

Bahoran: Eines der Elemente, das ich aus dem Blickwinkel meines 21. Jahrhundert-Intellekts zu verstehen versuche, ist, mein eigenes Sein zu relativieren. Die Aghori gehen wirklich ins Extreme, um ihre Ziele zu erreichen. Um das zu verstehen, schaute ich mir an, wo ich selbst extrem war und welche Opfer ich brachte. Jenes Element, für das ich am klarsten und eindeutigsten bereit war, durch Extreme zu gehen und viel dafür zu opfern ist meine Leidenschaft, mein Tanz. Ich akzeptiere und stelle mich dem Schmerz und der Mühe, viele Stunden zu trainieren, und mich selbst zu jenem Maximum, das ich als Künstler bringen kann, anzutreiben. Ich versäume viele Geburtstage und wichtige Momente von mir sehr nahestehenden Menschen, weil ich meiner Kunst nachgehe. Das bedeutet also, es ist egal, in welchem Jahrhundert wir intellektuell verankert sind, denn jeder von uns hat seine extremen Seiten, die uns als Individuum selber „normal“ erscheinen, aber für andere keinerlei Sinn ergeben. Speziell für jene, die uns sehr nahestehen.

Die Publikumsreaktionen sind insofern ziemlich „extrem“, weil sie sehr gegensätzlich sind. Auf der einen Seite sind da die Menschen, die die Schönheit im Finden der wesentlichen Kernaussagen erkennen. Sie können durch das rein Visuelle hindurchschauen und in den inneren Kampf der Darsteller hineinblicken, die um eine Transformation in einen höheren Bewusstseinsstand ringen. Dieser Teil des Publikums ist emotional berührt. Auf der anderen Seite stehen Reaktionen wie eine Art von Ekel, Empörung und Verwirrung, weil ich die wahre Essenz des Stückes dem Empfänger nicht so übersetzen konnte, wie ich es gehofft hatte. Dieser Teil des Publikums betrachtet das Stück als einen einzigen gesamthaften Geisteszustand und bekommt die Entwicklung, die die Darsteller durchmachen müssen, gefühlsmäßig gar nicht mit. Sie finden es dann meistens langweilig und zu abstrakt und zu bizarr. Eine andere Reaktion war jene, dass es nicht wirklich ein Tanzstück sei, dass nicht wirklich viel getanzt werde und es nicht allzu viel Struktur gebe. Ich frage mich dann, mit einem interessierten Lächeln, was diese Leute denn gesehen haben.

 

Performer müssen in ihrer DNA viel mit dem Thema gemeinsam haben

 

Füßl: Deine Arbeit kombiniert nicht nur zeitgenössische Tanzformen, besonders den Breakdance, mit hindustanischer Tradition, sondern sie enthält auch eine theatralische Dimension. Welche Anforderungen müssen Tänzer erfüllen, wenn sie mit Dir in einer Compagnie arbeiten wollen?

Bahoran: Bei jedem Stück ist das Level der tänzerischen Fähigkeiten immer nur ein Teil der Anforderung. Bei den Auditions versuche ich eine Konversation anzufangen, um den persönlichen Anknüpfungspunkt eines Bewerbers zum Thema des Stückes herauszufinden. Vor einigen Jahren ging es in meinem Stück „Lalla Rookh“ um das System der Lohnsklaverei, der Titel verwies auf den Namen des ersten Schiffes von Indien nach Surinam. Für dieses Stück suchte ich nach Darstellern mit der speziellen Kombination, dieselbe Geschichte wie ich als surinamischer Inder zu haben, einen tänzerischen Background im Hip-Hop oder Funk-Styles mitzubringen und in den Niederlanden zu leben. Drei von sechs Tänzern teilten exakt denselben Background mit mir, zwei weitere stammen von indonesischen Inseln und haben ebenfalls eine Lohnsklaverei-Geschichte in ihren Wurzeln. Die Sechste ist Marokkanerin, ihr Vater kam ebenfalls als Arbeiter in die Niederlande. Wenn die Performer so viel in ihrer DNA mit dem Thema des Stückes gemeinsam haben, dann weiß man, dass man tief graben kann, und dass sie sich sehr engagiert in den Prozess einbringen werden. Das Resultat auf der Bühne sind ausdrucksstarke Darsteller, die viel bewirken wollen. Es ist also eine Voraussetzung, dass sie mit dem Thema der Arbeit irgendwie in einer Verbindung stehen müssen. Im Arbeitsprozess ist es dann meine Angelegenheit, sie zu leiten und das Beste aus ihnen herauszuholen. Ich verbringe viel Zeit damit, als Choreograph das Vertrauen der Darsteller zu erlangen. Im „Aghori”-Team hat ein jeder auf seine Art sehr bewusst einen Pfad gewählt, um in seinem Bewusstseinsstand zu wachsen. Sei es nun von einem spirituellen oder nicht-spirituellen Zugang her. Das hat mich zu genau dieser Kombination von Performern bewogen.

 

Angesehene Compagnie oder Unabhängigkeit?

 

Füßl: Seit 2011 arbeitest Du als Tänzer und Choreograph mit der Crossover-Tanzkompagnie ISH, aber auch mit Korzo Producties, den wichtigsten Tanzproduzenten der Niederlande für junge Top-Talente. Wie leicht oder schwierig ist es für einen jungen Tanzprofi, in der niederländischen Tanzszene Fuß zu fassen? Wie wird man unterstützt?

Bahoran: Das ist eine schwierige Frage. Es geht in zwei Richtungen. Ja, es ist sehr hilfreich, sich unter der Flagge angesehener Compagnien auf den „Markt“ zu bringen und mit seiner Arbeit wahrgenommen zu werden. Aber für ein Individuum, das sich selbst erhalten können möchte und das mit seiner eigenen Compagnie – mit einem Team, das an seine Vision glaubt – wachsen möchte, ist es sehr schwer, unabhängig zu werden. Es ist also sehr nützlich, mit einer etablierten Compagnie verbunden zu sein, aber du kannst dann dafür nicht hinter der Szene zu hundert Prozent so agieren, wie du es gerne möchtest. Wenn man den unabhängigen Weg geht, ist es sehr schwer, Starthilfe zu bekommen und in die Welt der Finanzierungsförderungen hineinzukommen. Denn du brauchst ein Team, das du bezahlen kannst, und es muss etwas vorangehen, damit du für die Stiftungen interessant wirst. Du brauchst also schon Geld, um Leute an Bord holen zu können, noch ehe du Geldquellen erschlossen hast – das ist eine paradoxe Situation: Du brauchst A, um B zu bekommen, aber ohne B kannst Du A nicht haben.

Füßl: Vielen Dank für das Gespräch. 

tanz ist - Internationales Tanzfestiva
7. - 17.6.2018 Spielboden Dornbirn

Shailesh Bahoran: „Aghori“
Österr. Erstaufführung
19.30 Uhr „Shailesh Bahoran“, Film von Shueti, NL 2017
Do, 7.6.& Sa, 9.6., 20.30 Uhr

Infos zum gesamten Festival:
www.tanzist.at
www.spielboden.at