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Markus Barnay · 07. Okt 2015 ·

Der Kampf zwischen Moderne und Antimoderne - Meinrad Pichler präsentiert den Band 3 der Geschichte Vorarlbergs

1982 gründete eine Gruppe junger Historiker die „Johann-August-Malin-Gesellschaft“, einen historischen Verein, der nach einem Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime benannt wurde und dessen Aufgabe „die Verbreiterung der Diskussion über bisher zu wenig berücksichtigte Themenstellungen der neueren Lokal- und Regionalgeschichte und die Erforschung der historischen und aktuellen Lebensbedingungen in Vorarlberg“ ist. Gut 33 Jahre danach kann man festhalten, dass der Vereinszweck zu einem nicht unerheblichen Teil erfüllt ist: Die einst verschwiegenen oder zumindest schöngefärbten Kapitel der Lokal- und Regionalgeschichte sind zu einem erheblichen Teil erforscht, und die damals von der konservativen Elite des Landes als „linke“ Außenseiter und Störenfriede behandelten Historiker bestimmen heute den öffentlichen Diskurs über Geschichte. Bestes Beispiel dafür ist der dritte und letzte Band der im Universitätsverlag Wagner erscheinenden „Geschichte Vorarlbergs“, der Mitte Oktober im vorarlberg museum präsentiert wird: Meinrad Pichler, Gründungsmitglied der Malin-Gesellschaft und Träger des Vorarlberger Wissenschaftspreises 2014, wurde beauftragt, die Entwicklung des Landes von 1861 bis 2015 zu beschreiben.

Pichler statt Bilgeri


Einen größeren Kontrast zum historischen Standardwerk über die „Geschichte Vorarlbergs“, Benedikt Bilgeris zwischen 1971 und 1987 erschienenem fünfbändigen Œuvre, kann man sich kaum ausdenken: Hier der detailverliebte Erbsenzähler Bilgeri, der trotz allen Quellenstudiums seine Schlussfolgerungen den ideologischen Vorgaben der Landesregierung unterwarf und notfalls die Fakten so zurechtbog, dass sie ins schöngefärbte Bild passten, da der kritische, unangepasste und sprachgewandte pensionierte Gymnasiumsdirektor, der vor allem jene Stellen ausleuchtet, die bisher oft im Dunkeln blieben, und der sich nicht von einer vorgegebenen Meinung leiten lässt, sondern die Leitlinien seiner Arbeit aus dem zusammengetragenen Stoff herausarbeitet.

Auch Meinrad Pichlers Arbeitsweise unterscheidet sich fundamental von jener Bilgeris: Der hatte sich jahrzehntelang vom Schuldienst karenzieren lassen, um sich durch die Aktenberge des Landesarchivs zu wühlen, Meinrad Pichler, der natürlich einen weit kürzeren Zeitabschnitt zu bearbeiten hatte, konzentrierte sich in seiner dreijährigen Arbeit darauf, den aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen. Aber auch das bedeutete genug Arbeit, wie die 29 Seiten umfassende Literaturliste im neuen Buch belegt. Auf ihr finden sich nicht nur Monografien und Sammelbände zu unterschiedlichen Aspekten der Landesgeschichte, sondern auch zahlreiche Diplomarbeiten, Dissertationen und Aufsätze, die bisher nur zum Teil einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren.

Es bleiben Forschungslücken


Und dennoch gibt es laut Pichler noch Lücken in der historischen Forschung: „Das gilt vor allem für die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, jene Formierungsphase des Landes, über die es zwar etliche grundsätzliche Arbeiten gibt, wo man aber noch deutlicher ins Detail gehen könnte. Aber auch in der Zeit der Ersten Republik gäbe es Felder, die man noch genauer untersuchen könnte. Beispielsweise ist die Zeit des „Ständestaates“ bzw. des Austrofaschismus in Vorarlberg im Detail wenig erforscht – etwa, wie die einzelnen, vom Dollfuß-Regime vorgegebenen Institutionen tatsächlich auch in Vorarlberg funktioniert haben. Auch für die Nachkriegszeit gibt es beispielsweise noch keine Studie zur Wirksamkeit des Marshallplans.“

Für die inhaltliche Struktur des Buches wählte Meinrad Pichler eine Mischung aus chronologischer Darstellung und der Behandlung von Themenschwerpunkten. So gibt es zwar eigene Kapitel, in denen die Periode vor dem Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit oder die Zeit des Nationalsozialismus dargestellt werden, dazwischen widmet sich aber ein ausführliches Kapitel den Frauen – und zwar vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart: „Ich habe die Geschichte der Frauen über die ganze Zeit hinweg verfolgt, weil sich nur so bestimmte Entwicklungen, Kontinuitäten und auch Veränderungen zeigen lassen. Dieses Kapitel hat auch eine ganz eigene Struktur, deshalb heißt es auch ‘Die Frauen – eine eigene Geschichte’.“

Wie viel Moderne wollen wir zulassen?


Dass Band 3 der Geschichte Vorarlbergs mit dem Jahr 1861 beginnt, hat mit der Gewährung eines eigenen Landtags für Vorarlberg in jenem Jahr zu tun. Dieser erste Schritt zu einer Abkoppelung von Tirol und zu einer politischen und verwaltungsmäßigen Selbständigkeit gilt als wichtiger Meilenstein in der Geschichte der „Landwerdung“ Vorarlbergs. Doch konzentrierte sich Meinrad Pichler nicht nur auf die politische Entwicklung des Landes: „Ich möchte schon mit meiner Einteilung darauf hinweisen, dass der Landtag zwar ein Machtfaktor in der Entwicklung dieses Landes war, dass er aber das Geschehen in diesem Land bei weitem nicht so dominiert hat, wie das vielleicht im Landhaus selbst gesehen werden könnte – zumal die Kompetenzen des ersten Landtages sehr eingeschränkt waren. Worum es mir gegangen ist und warum ich auch von einer politischen Geschichte abgekommen bin, ist die Tatsache, dass die Vorarlberger Landesgeschichte in dieser Zeit zwischen 1861 und etwa 1975 ganz eindeutig von einem Kampf zwischen Moderne und Antimoderne geprägt wurde – und dieser Kampf war nicht nur eine politische Auseinandersetzung, sondern auch eine, die sich in den Alltag hinein verlagert hat, die sich auf wirtschaftlicher Ebene ausgewirkt hat, und die vor allem auch auf kulturellem Gebiet alles dominiert hat. Sowohl die Entwicklung des Tourismus als auch die Entwicklung anderer Bereiche standen immer in diesem Zwiespalt: Wie viel Moderne wollen wir zulassen, und wie viel Moderne können wir verhindern? Wie viel Antimoderne wollen wir uns erhalten, und wie viel Moderne müssen wir aus kommerziellen oder anderen Motiven zulassen? Das zieht sich durch alle Gebiete des Lebens hindurch, und das ist am Schluss das Leitmotiv des ganzen Buches geworden.“

Verelendung weiter Teile der Bevölkerung


Meinrad Pichler setzt aber auch noch andere Akzente, die in bisherigen Darstellungen der Landesgeschichte eher vernachlässigt wurden. So fügt er dem Kapitel über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes eines über die soziale Lage der Bevölkerung hinzu – und zeigt damit die Schattenseiten der umfassenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert: „Der Erfolg wurde teuer erkauft – und dieser Teil der Geschichte, dass der Wohlstand mit vielen Opfern verbunden war und dass sehr viele Menschen Leib und Leben für den wirtschaftlichen Erfolg eingesetzt und zum Teil auch gelassen haben, wurde bisher zu wenig beachtet. Es gibt eine Reihe von Studien über die Gesundheit der Bevölkerung, und da wird sichtbar, dass beispielsweise die Tuberkulose nirgends mehr verbreitet war als in Vorarlberg – ein eindeutiger Indikator für die miserablen Wohnverhältnisse und die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung.“

Austausch der Arbeiterschaft durch Aus- und Einwanderung


Die Folgen waren aber auch eine Art Austausch der Bevölkerung: Während Tausende das Land verließen, um dem zunehmenden Elend zu entfliehen und – als klassische „Wirtschaftsflüchtlinge“ – in den USA oder in Südamerika einen Neuanfang zu probieren, wurden in anderen Regionen Arbeitskräfte angeworben. „Der einheimische Teil der Arbeiterschaft, vor allem der ländliche Teil davon, wurde überflüssig, sobald er sich organisierte und anfing, Forderungen zu stellen, und wurde durch eine Arbeiterschaft ersetzt, die anspruchsloser und unorganisierter war, die beispielsweise sprachlich wenig orientiert war und die natürlich aus einem wenig entwickelten agrarischen Gebiet kam, wo die Menschen froh um einen Arbeitsplatz waren.“

Durchaus kritisch ist Pichlers Blick auch auf die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg: Das, konstatiert er, sei zwar ohne Zweifel eine „Erfolgsgeschichte“, man vergesse aber oft, „dass die Vorarlberger Wirtschaft nach 1945 gegenüber anderen Bundesländern einen ganz deutlichen Startvorteil gehabt hat – das lässt sich auch mit Zahlen belegen.“

Zu wenig Distanz, um über gegenwärtiges Geschehen zu urteilen

Selbstverständlich nehmen in Pichlers „Geschichte Vorarlbergs“ auch die Brüche des 20. Jahrhunderts – der Erste Weltkrieg und die NS-Diktatur – breiten Raum ein, schließlich hat er ja selbst etliche Publikationen zu letzterem Thema verfasst. Aber auch die letzten Jahrzehnte werden umfassend beschrieben, auch wenn die Ausführungen immer kursorischer werden, je näher sich der Autor der Gegenwart nähert. Das liege nicht nur daran, dass er diese Zeit auch als Akteur erlebt habe, meint Pichler, sondern auch daran, dass man die Folgen gegenwärtiger Entscheidungen erst aus der Distanz beurteilen könne.

Präsentiert wird der 3. Band der „Geschichte Vorarlbergs“ am 15. Oktober im vorarlberg museum. In den darauffolgenden Monaten gibt es ebenda Gelegenheit, mit Meinrad Pichler über seine Darstellung zu diskutieren: Er stellt in drei Ausgaben von „Freitags um 5“ drei „Anfänge“ der Vorarlberger Landesgeschichte vor – die Jahre 1861, 1918 und 1945.

 

Meinrad Pichler, Geschichte Vorarlbergs, Band 3 – Das Land Vorarlberg. 1861 bis 2015, 472 Seiten, € 29,90, ISBN: 978-3-7030-0865-8, Universitätsverlag Wagner Innsbruck 2015, erscheint am 15. Oktober

 

„Geschichte Vorarlbergs Band 3“
Buchpräsentation
15.10., 19 Uhr
vorarlberg museum, Atrium

Meinrad Pichler: Drei Anfänge – 1861/1918/1945
20.11., 11.12. und 22.1., jeweils im Rahmen von „Freitags um 5“ um 17 Uhr
vorarlberg museum, Veranstaltungssaal