Neu in den Kinos: „Für immer hier“
Im preisgekrönten Spielfilm von Walter Salles („Central Station“) macht sich Fernanda Torres während der brasilianischen Militärdiktatur auf die Suche nach ihrem verschwundenen Ehemann. Das packende Drama über ein traumatisches Familienschicksal erhielt den Oscar für den besten internationalen Film.
Sobald man etwas ausspricht, wird es wahr. Bis dahin bleibt das Ungesagte nur eine Möglichkeit. Eunice Pavia (Fernanda Torres) weiß, was mit ihrem Mann geschehen ist, aber sie verschweigt es ihren Kindern. Vielleicht glauben die vier Töchter und der Sohn immer noch, dass Rubens (Selton Mello) von seiner langen Geschäftsreise bald wieder nach Hause kommt. Bis zum Ende des Films wird Eunice ihren dann erwachsenen Kindern nicht erzählen, was sie an jenem Nachmittag erfahren hat: dass Rubens‘ Leiche nach seiner Ermordung entweder verscharrt, irgendwo aus einem Helikopter oder in ein Massengrab geworfen wurde. Indem sie nicht ausspricht, dass er tot ist, soll Rubens am Leben bleiben.
„Für immer hier“ spielt überwiegend in den frühen 1970er Jahren in Rio de Janeiro und wird von Regisseur Walter Salles aus der Perspektive eines empathischen Beobachters erzählt. Der internationale Titel „I‘m Still Here“ umfasst, als wörtliche Übersetzung des portugiesischen Originaltitels, die Geschichte präziser: Rubens Pavia wird noch Jahrzehnte nach seinem Tod in der Erinnerung vieler weiterleben – und damit nicht für, aber noch immer hier sein. „Für immer hier“ ist die Geschichte einer Familie in einer Zeit, die – wie in solchen Fällen oft euphemistisch – als dunkles Kapitel des Landes bezeichnet wird: Im Jahr 1965 putscht mit Unterstützung durch US-Geheimdienste das Militär gegen Präsident João Goulart. Einflussreiche Vertreter der linken Opposition werden wenig später nicht nur mundtot gemacht. Während der zwanzigjährigen Diktatur stehen Folter, Mord und das Verschwinden Tausender sogenannter missliebiger Personen auf der Tagesordnung. Auch der Architekt Rubens Pavia, ehemaliger Abgeordneter der Arbeiterpartei, erhält am 20. Januar 1971 Besuch von drei Männern. Er soll eine Aussage machen. Er müsse noch mal zurück ins Büro, erklärt er seiner Tochter, und dass er am Abend wieder zuhause wäre. Bevor er in das vor dem Haus wartende Auto steigt, zieht er sich ein weißes Hemd an und bindet sich eine Krawatte.
Neue Zeitrechnung
Bis zu diesem Moment zeichnet Salles das scheinbar idyllische Bild einer sorglosen und wohlhabenden Familie, die es sich sogar leisten kann, die älteste Tochter zum Studium nach Europa zu schicken. Dylan-Platten und Godard-Poster sorgen im von der Popkultur geprägten Jugendzimmer für das Zeitkolorit, während die Eltern versuchen, die Politik aus dem Familienalltag auszublenden. Was immer weniger gut gelingt, denn die bedrohliche Außenwelt klopft immer lauter an die Tür des großen Hauses in Strandnähe: Besorgte Freunde berichten von ihren Auswanderungsplänen, Militärfahrzeuge rasen durch die Straßen, in den Fernsehnachrichten wird von der Entführung des Schweizer Botschafters durch linke Guerillakämpfer berichtet, eine Fahrzeugkontrolle mitten im Tunnel gerät zur Machtdemonstration der Soldaten auf der Suche nach vermeintlichen Terroristen. Als das Telefon klingelt und sich der anonyme Anrufer nach Rubens erkundigt, beginnt für die Pavias endgültig eine neue Zeitrechnung.
Doch weder die unspektakuläre – und dadurch umso bedrohlicher wirkende – Verhaftung von Rubens noch die folgende zweiwöchige Inhaftierung von Eunice fungieren in diesem Film als dramatische Höhepunkte. Vielmehr vollzieht sich das Verschwinden des Familienvaters in einem schleichenden Prozess, in dem er sich in ein unsichtbares Phantom verwandelt: Monatelang bemüht sich Eunice mit Hilfe eines Anwalts vergeblich um Informationen über den Verbleib ihres Mannes, die finanzielle Situation wird stetig angespannter, weil die Bank den Zugriff auf das gemeinsame Konto verweigert, und die Angst unter Freunden wächst, nachdem Eunice im Gefängnis unter psychologischer Folter verhört wurde.
Mehr als tausend Worte
„Für immer hier“, soeben mit dem Oscar für den besten internationalen Film ausgezeichnet, basiert auf der autobiografischen Erzählung von Marcelo Rubens Paiva aus dem Jahr 2015, in der dieser das traumatische Familienschicksal verarbeitet. Nach der konventionellen Kerouac-Verfilmung „On the Road“ und einem Dokumentarfilm über Jia Zhangke greift Walter Salles, seit seiner Jugend mit den Pavia-Kindern befreundet, damit nach zwölfjähriger Regiepause auf einen Stoff zurück, der ihm nicht nur bestens vertraut ist, sondern auch Teil seiner eigenen Biografie. „Für immer hier“ ist nach dem Favela-Drama „Linha de Passe“ (2008) über vier Brüder aus den Slums von São Paulo zudem der erste Film, mit dem Salles wieder eine Geschichte aus seinem Heimatland erzählt. Und obwohl es in erster Linie jene von Eunice ist, die mit großer Willenskraft ihre Familie zusammenhält, ist „Für immer hier“ auch ein Film über das Loslassen: Die ergreifendsten Momente sind die, in denen die Kinder die Wahrheit erfahren, ohne sie erzählt zu bekommen. Es muss nicht der leere Kleiderschrank sein, nicht der Umzug, der wie aus heiterem Himmel am Esstisch verkündet wird. Es kann auch ein wieder ausgegrabener Milchzahn sein, der mehr als tausend tröstende Worte sagt.
Im letzten Kapitel des Films, in dem sich die Familie zu einer Feier im Jahr 2014 versammelt, wird Eunice, die bereits im Rollstuhl sitzt, von Fernanda Torres’ eigener Mutter gespielt: Fernanda Montenegro, die Grande Dame des brasilianischen Kinos, war die Hauptdarstellerin in Salles’ international bekanntestem Film, „Central Station“ (1998). Wichtig ist diese Szene jedoch auch aus einem anderen Grund: Es macht einen Unterschied, ob etwas nur nicht gesagt wird oder ob die Erinnerung an jemanden verblasst. Denn dann wäre der andere nicht für immer hier, sondern für immer verschwunden.
ab 14.3., Cinema Dornbirn, ab 15.3. TaSKino im GUK Feldkirch (OmU)