Die südkoreanische Geigerin Bomsori Kim begeisterte das Publikum bei den Bregenzer Meisterkonzerten im Festspielhaus. (Foto: Udo Mittelberger)
Ingrid Bertel · 04. Nov 2024 · Literatur

Wildkatzen und andere Kreaturen

„Wie die Welt weiterging“: 365 Kurzgeschichten von Monika Helfer

Den angebotenen Vitaminsaft lehnt der Mann, der da wacklig vor dem Krankenhauslift steht, ab. Lieber wäre ihm ein „Underbergsaft“, sagt er. Ohnedies sei er dem Tod nahe, und „ich wollte den Mann nicht beschämen und ihm sagen, was gut für ihn wäre, jetzt, wo er dem Tod so nah war.“ Wenig später sieht die Erzählerin „eine Bahre, ein geöffnetes Fenster und das leere Bett des Mannes.“

Kurzgeschichten seien „ein Stück herausgerissenes Leben“, hat Wolfdietrich Schnurre, der Meister der Kurzgeschichte, erkannt – und auf jene, die Monika Helfer in diesem Band versammelt hat, trifft das auf jeden Fall zu. Sie spielen am Busbahnhof, im Wald, im Zug, auf der Straße. Es sind Gespräche mit Zufallsbekanntschaften oder Freundinnen und Freunden. Erzähler von Kurzgeschichten, meinte Walter Benjamin, sei einer, der „seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag“. Eine leise Ratlosigkeit und eine zurückhaltende Anteilnahme, die sich jedenfalls Besserwisserei verkneift, kennzeichnet auch die Ich-Erzählerin in Monika Helfers Kurzgeschichten. 365 sind es an der Zahl, für jeden Tag eine.
Man sollte sie nicht zu schnell und gierig lesen, sonst entgeht einem das Besondere, das zwischen den Zeilen leuchtet. „Vor seiner Erstkommunion hat er mich gefragt, er wisse nicht, was er beichten solle. ,Mir fällt nur Mülltrennung ein‘, hat er gesagt.“ Das wäre jetzt eine Pointe, aber Monika Helfer unterläuft sie und setzt fort: „Ich hab oft, wenn du mich zu den Containern geschickt hast, alles in einen einzigen geschmissen.“ 

Einfach, aber niemals banal

Warum schreibt Monika Helfer so zielsicher am erzählerischen Effekt vorbei? Wolfdietrich Schnurre kennt den Grund: „Anfang und Ende sind in der Kurzgeschichte gleichgültig; was sie zu sagen hat, sagt sie mit jeder Zeile; ihre Sprache ist einfach, aber niemals banal.“ Bei Monika Helfer bedeutet das, dass die Figuren nie so reden, wie wir das in Wirklichkeit tun. Und trotzdem hat man das Gefühl, wir reden in Wirklichkeit so. Anders als in der Realität hören wir auch einander zu und gehen auf das ein, was unser Gegenüber sagt. Deshalb ist die Sprache von Monika Helfers Figuren niemals banal, und deshalb muss sie die Pointen überspielen. 
„Wir sollten einmal wenigstens versuchen, wenn wir reden, über Dinge zu reden, die nicht schon vorformuliert worden sind“, sagt ihre Ich-Erzählerin zu einer Freundin. Die fragt: „Wie soll das gehen? Wir sind Menschen!“ In der Antwort zeigt sich Monika Helfers Kunst des Weglassens und Aussparens: „,Jeder Mensch denkt doch‘, sage ich. ,Weißt du, was mich an dir besonders aufregt? Dass du, immer wenn du etwas Banales sagst, zuerst sagst: Was ich jetzt sage, ist wirklich banal. Sag doch einfach, was du denkst! Das fällt uns am schwersten.‘“

Hinüberschlafen. Einfach so.

Das stimmt natürlich, aber es geht in diesen Kurzgeschichten sowieso weniger um das, was man denkt, als um das Wahrnehmen des Kreatürlichen. Dabei streicht der Tod durch diese Geschichten. Er steigt aus dem Duft der entsorgten Grünlilien, er flattert mit einem verwirrten Amselweibchen gegen Fensterscheiben, er geistert durch Kindheitserinnerungen an den Bürserberg, vor allem aber hält er sich in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Palliativstationen auf. Und da ist er bisweilen durchaus willkommen. Einfach hinüberschlafen möchte eine kranke Frau. Zuvor aber schreibt sie eine Verfügung, „dass ihre zukünftigen Enkelkinder zu Geburtstagen und den Feiertagen kleine Geschenke bekommen sollten, aus dem Nachlass der Oma. Sie besaß tausend wunderbare Winzigkeiten. Die Geschenke würden die Kinder ein Leben lang begleiten.“ In solchen Geschichten hören wir es schlagen, das großzügige Herz von Monika Helfer.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der „KULTUR“, November 2024 erschienen.

Monika Helfer: Wie die Welt weiterging. Geschichten für jeden Tag. Hanser, München 2024, 768 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-446-27750-2, € 32,90

Lesung und Gespräch: 5.11., 19.30 Uhr, Jürgen Thaler, Mod.
Theater Kosmos, Bregenz

www.theaterkosmos.at