Vom Himmel hoch
17 Sternenhimmel lässt Raoul Schrott in seinem einzigartigen „Atlas der Sternenhimmel“ aufleuchten.
Es sind mehr als 1.200 Seiten Text und unzählige, präzise gezeichnete Sternbilder, in denen die unterschiedlichen Helligkeitsgrade der Sterne mit den markanten Punkten eines Sternbilds - etwa dem göttlichen Papagei der Maya, dem Elch der Inuit oder dem einbeinigen Gott des Gewitters der Inka passgenau abgeglichen sind. Alle drei Sternbilder entsprechen übrigens dem, was wir den Großen Wagen nennen. Der Autor Raoul Schrott und die Grafikerin Heidi Sorg legen ein Werk von betörender Qualität vor, ein Buch, zu dem es so viele Zugänge gibt wie Sterne am Himmel.
Man kann darüber ins Träumen geraten oder ins Philosophieren. Man kann es studieren, damit spielen, darüber nachdenken oder ein Gespräch führen. Die irdische Basis ist ausgedehnte Forschungsarbeit, ähnlich jener von Archäologen, im Himmel darüber blitzen künstlerische und literarische Sterne sonder Zahl.
Warum sehen wir Sternenbilder?
„Der Bereich, in dem wir innerhalb unseres Gesichtsfelds sehen, umfasst lediglich rund 30°. Diese 30° bestimmen in allen Kulturen die Durchschnittsgröße der Sternbilder“, schreibt Raoul Schrott im Vorwort. Es ist also die menschliche Wahrnehmung, die die Sternenbilder erzeugt. „Aus diesem Grund segmentierten die Babylonier letztlich die 360° des Himmelsumfangs in Tierkreiszeichen, um den Jahreslauf zu unterteilen, und die Griechen systematisierten diese wiederum in Bezug auf die Sonnenbahn. So kamen wir zu den 12 Monaten unseres Jahres.“
Dass die babylonischen Tierkreiszeichen allerdings bis in unsere Zeit lesbar blieben, liegt daran, dass sie ausreichend schematisch sind. Wären sie komplexer, wir hätten kein Gedächtnis für sie. Werden Sternbilder von einer Kultur in besonderer Weise ausgebaut, sind sie für eine andere Kultur nicht mehr verständlich. Das erfuhr im Jahr 1609 der Historiker Garcilaso de Vega. Inka wollten ihm in den Dunkelwolken der Milchstraße das Bild einer Lamastute, die ihr Junges säugt, zeigen: „Siehst du nicht den Kopf der Lamamutter? Und da ist der Kopf des an ihr säugenden Fohlens; und dort sind ihr Körper und die Beine.“ Garcilaso de Vega gesteht, dass er nichts erkennen konnte als Flecken und schrieb das fälschlicherweise einem Mangel an Vorstellungskraft zu. Unser Gehirn aber kann, das haben Semiotiker wie Umberto Eco beschrieben, nur Strukturen identifizieren, mit denen es vertraut ist.
Warum sind die Sternbilder Lebewesen?
In den meisten Schöpfungsmythen kommen am Anbeginn der Zeit Tiermenschen aus einer unterirdischen Welt an die Erdoberfläche und gelangen an den Himmel als Fisch oder Vogel, Vierbeiner oder Mensch. Der Blick in die Sterne ermöglicht es den Menschen auf der Erde also, sich selbst und ihre Welt zu erkennen. Und er ermöglichte bereits vor 70.000 Jahren, eine sesshafte Lebensweise zu entwickeln. „Ohne die Sternenbilder, welche die Wochen markieren, in denen ein Feld vorzubereiten, zu pflügen, zu besäen, zu bewässern ist, wäre keine Landwirtschaft möglich gewesen – und ohne sie wiederum gäbe es keine Städte, Tempel, Schrift, Herrschaftsstrukturen, keine Zivilisation.“
Raoul Schrott hat ausgedehnte Forschungsreisen unternommen, etwa ins Gebiet der heutigen Tuareg. Im Erg Tilhodaïn studierte er mit einem Wissenschaftler des Planetariums Augsburg „Schlüssellochgräber“ aus dem 3. Jahrtausend v. u. Z., um die sich mit Steinen ausgelegte Halb- und Vollkreise befinden, „die an den Mond gemahnen.“
Dass der Mond sich jeden Monat regeneriert, „wird mit den Toten verbunden (und findet sich in einer vergleichbaren Version bei den australischen Aborigines wieder).“ Der Mond ist ein Zeitmesser; er bietet Orientierung in der Nacht. Und um ihn kreisen zentrale Erzählungen aller Schöpfungsmythen.
Warum gleichen die Schöpfungsmythen aller Kulturen einander?
Raoul Schrott aber hat für sein Buch nicht nur ausgedehnte Reisen unternommen, sondern eine schier unglaubliche Zahl an indigenen Zeugnissen, Sagen, Legenden, Mythen, Berichten von Missionaren und Reisenden sowie frühen Ethnografen studiert. „Es war dies eine mühevolle Recherche, und all die unterschiedlichen Informationen zu einem Ganzen zusammenzusetzen, jedes Mal ein Puzzlespiel …“
Zu Schrotts Quellen gehören etwa die Aufzeichnungen von Wilhelm Bleek, der in den 1850er Jahren von Kapstadt aus die Bantu- und Khoisan-Sprachen erforschte und wortgetreu die Schöpfungsmythen seiner Informanten aufzeichnete. Diese Nachfahren der Buschleute gehören zur ältesten Population der Erde und sind genetisch die engsten Verwandten jenes Homo sapiens, der vor 70.000 Jahren aus Ostafrika nach Europa, Asien und Amerika migrierte. Die Schöpfungsgeschichte scheint eine Errungenschaft des afrikanischen Homo sapiens. Und die zahlreichen Übereinstimmungen in den Sternbildern afrikanischer, asiatischer, amerikanischer und europäischer Kulturen – etwa „zwischen Bororo und Indios in den Anden mit Aborigines und Buschleuten auf der anderen Seite der Welt“ – lassen sich, so Raoul Schrott, „durch die weltweite Ausbreitung des Homo sapiens erklären.“
Adam und Eva, einen ersten Mann und eine erste Frau gibt es in allen Schöpfungsmythen. Bei den Buschleuten allerdings gibt es auch ein erstes Mädchen. Das muss zur Zeit seiner ersten Regelblutung abgeschieden in einem kleinen Haus wohnen. Und es bekommt auch nicht genug zu essen. Da wird das Mädchen zornig, greift in die Holzasche und wirft sie in den Himmel. So entsteht die Milchstraße.
Was malen die Künstler der Altsteinzeit?
Eine von Raoul Schrotts spannendsten Thesen ist die Deutung altsteinzeitlicher Felsmalereien, wie wir sie etwa aus dem Périgord, dem Ardèche-Tal oder dem spanischen Altamira kennen: „Wenn in den Anden, bei den Navajo oder den Buschleuten Höhlen als Ursprungsorte all der Menschen und Tiere verehrt werden, weil sie dort aus ihrer unterirdischen Vorwelt herauskamen, so ist eine solche Vorstellung mehr als stimmig mit den in den europäischen Höhlen abgebildeten Tieren. Sie stellen nur in Ausnahmefällen das eigentliche gejagte Wild dar, in der Regel jedoch jene majestätischen Tiere, die bei Sternenhimmelkulturen als Urahnen der heutigen Menschheit gelten.“
Ein solches Menschen-Tier, das in unterschiedlichsten Gestalten vorkommt, ist die Sonne, bei uns weiblich – bei den Franzosen männlich, weiblich bei den Arabern und den Inuit, in den meisten Sternhimmelkulturen aber männlich, bei den Buschleuten die Mutter des Mondes, jedenfalls aber der dominanteste Stern am Himmel.
Im Christentum kommen nur die Braven nach ihrem Tod in den Himmel; in den Sternhimmelkulturen aber alle Menschen, und Raoul Schrott hat dafür eine bestechend logische Erklärung: „ […] weil er (der Himmel) überall als über uns sich erstreckendes Land betrachtet wird, in dem alles Irdische in unvergänglicher Hülle und Fülle vorhanden ist.“
Raoul Schrott weiß das, so wie Shakespeare es wusste, als er Julia die wohl schönsten Verse sagen ließ, die Liebende träumen, weil der Geliebte für sie wunderbar ist wie die ganze Welt:
„Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gib mir / meinen Romeo! / Und stirbt er einst, nimm ihn, zerteil in kleine Sterne / ihn: / Er wird des Himmels Antlitz so verschönen, dass / alle Welt sich in die Nacht verliebt / und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt."
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Dezember/Jänner 2024 erschienen.
Raoul Schrott: Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit, Hanser Verlag, München 2024, 1.280 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-446-28122-6, 152,20 €
Lesungen aus dem Buch mit Hubert Dragaschnig
22.1./13.2./6.3.25
Theater Kosmos, Bregenz
www.theaterkosmos.at