„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Peter Niedermair · 21. Sep 2020 · Theater

Robert Wilson / Tom Waits / Kathleen Brennan „Woyzeck“ nach Georg Büchner am Vorarlberger Landestheater

Beim Hessischen Landboten von 1834 handelt es sich um eine Flugschrift, die mit der Parole „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ die hessische Landbevölkerung zur Revolution gegen die Unterdrückung des Fürstenhauses aufrief. 1835 schrieb er noch „Dantons Tod“ und „Lenz“. Büchner, nachdem er dem Aufruf eines Untersuchungsrichters nicht folgte, wurde steckbrieflich gesucht und floh über Straßburg, wo er den Woyzeck begann, und Basel nach Zürich, wo er im Oktober 1836 ankam und in der Spiegelgasse 12 unmittelbar neben der späteren Exilwohnung Lenins im Niederdorf, Quartier nahm. Das Multitalent Georg Büchner, Dichter, Naturwissenschaftler, Mediziner und Revolutionär verbrachte die letzten vier Monate seines dichtgedrängten, von Krankheit gezeichneten Lebens in Zürich. Er war ein Dichter des Vormärz, ein politisch kritischer Autor, hatte eine Vorliebe für persönlich instabile Charaktere, die er psychologisch tiefenscharf zeichnete, verwendete für diese Figuren die Umgangssprache, die ein neues bühnendramaturgisches Stilmittel darstellte. Am 5. Nov. 1836 hielt er am Anatomischen Institut der Universität Zürich mit selbst gefertigten Präparaten seine Probevorlesung zur Anatomie von Fischen und Amphibien, am 1. Feb. 1837 erkrankte er an Typhus, starb am 19. Feb. 1837 und wurde am Zürcher Stadtfriedhof „Krautgarten“, wo heute das Zürcher Kunsthaus steht, begraben. Später, 1875, nach Einebnung des Friedhofs, wurde Büchner in ein Grab bei der Bergstation der Seilbahn Rigiblick verlegt. Sein Leben war Fragment geblieben, wie „Woyzeck“, jenes Stück, das uns bis heute berührt. Jüngst gesehen und erlebt im Vorarlberger Landestheater. Ein Besuch der Inszenierung ist sehr zu empfehlen.

Das in Bregenz von Tobias Wellemeyer brilliant inszenierte Stück geht zurück auf das gleichnamige Dramenfragment Georg Büchners aus dem Jahr 1837 und gehört heute zu den ganz bedeutenden, einflussreichsten und meistgespielten Dramen der deutschen Literatur. Es ist die völlig verrückte, düster-tragische, auf Tatsachen zurückgehende Geschichte des Soldaten Franz Woyzeck, der gegen Geld von einem spottenden Arzt für pseudomedizinische Experimente missbraucht wird, der im Kampf um das tägliche Überleben physisch und psychisch von seiner Umgebung misshandelt, geschlagen und in den Dreck gestoßen wird, was ihn zu Wahnvorstellungen führt. Er liebt und begehrt seine Marie, mit der er ein Kind hat, mit großer Hingabe, poetisch und sinnlich und über alles. Doch als er entdeckt, dass seine geliebte Marie, ihm untreu ist, gehorcht er den inneren Stimmen, die ihm befehlen, sie zu töten.

Die in Bregenz inszenierte Version geht zurück auf die Woyzeck-Fassung von Tom Waits, Robert Wilson und Kathleen Brennan, die im Jänner 2010 am Hamburger Thalia Theater Premiere hatte. So muss Theater sein, dachte ich bei mir, es muss unter die Haut gehen, mich berühren, emotional erschüttern, mich befragen, um die Realitäten nochmals befragen zu können, viele der im Umfeld des Stücks andockenden Phantasien aus der unmittelbaren Zeitgeschichte hervorholen, wie zum Beispiel die Bilder vom Abu-Ghraib Skandal, eine Folteraffäre, die während der Besetzung des Irak durch die USA für weltweites Aufsehen und Erschütterung sorgte. Dabei wurden irakische Insassen des Gefängnisses vom Wachpersonal misshandelt, vergewaltigt und oft bis zum Tod gefoltert. 

Woyzeck handelt von Wahnsinn und Obsessionen

Auf der Grundlage der überlieferten Fragmente Büchners schrieb Tom Waits mit seiner Frau, der Songtexterin Kathleen Brennan, großartige, erschütternde wie einfühlsame Musik. Die peitschend-aggressive Rhythmik und die romantischen Melodien mit den außergewöhnlich emotionalen poetischen Texten, die von den auf der Bühne hinter den Käfiggittern positionierten Musikern Stefan Halbeisen, Levent Ivov, Stephan Reinthaler, Tilman Ritter und Jürgen Saskiss gespielt werden, spiegeln das menschliche Leid und die Tragik von Büchners Figuren wider. „Woyzeck handelt von Wahnsinn und von Obsessionen, von Kindern und von Mord – alles Dinge, die uns berühren. Das Stück ist wild und geil und spannend und Phantasie anregend. Es bringt einen dazu, Angst um die Figuren zu bekommen und über das eigene Leben nachzudenken. Ich schätze mal, mehr kann man von einem Stück nicht verlangen.“ (Tom Waits) Zu Robert Wilsons bevorzugten Autoren gehört Georg Büchner, dessen „Dantons Tod“ er inszenierte, zu Woyzeck, wie gesagt, ließ er Tom Waits die Musik komponieren, und zu dessen „Leonce und Lena“ Herbert Grönemeyer die Musik schreiben. Robert Wilson arbeitete mit dem legendären Rock-Musiker Tom Waits „The Black Rider“, Text von William S. Burroughs und Herbert Grönemeyer „Woyzeck“ und schrieb 1976 das Libretto zu „Einstein on the Beach“, Musik von Philip Glass, ein Klassiker der Opernliteratur.

„Misery’s the River of the World“

So missachtet wie Woyzeck, völlig überzeugend gespielt von Felix Defèr, am Beginn des Stücks in einer Holzkiste auf die Bühne getragen wird, so gehetzt geht die permanente Denunzierung weiter. „Misery’s the River of the World“ ist der erste Song zu Beginn des Prologs, als wir den Ausrufer mit Affe, Pferd und Kanarienvogel aus Pappe sehen. Im selben Songtext: „If there’s one thing you can say about mankind / There’s nothing kind about man“. Ob es der Hauptmann ist, der ihn, während er von ihm rasiert wird, ständig anpöbelt, oder der schnöselhafte Doktor, der ihn für seine pseudomedizinischen Experimente missbraucht („God’s away on business“) und ihn ständig mit moralisierendem Geschwafel überschüttet, Woyzeck spürt in einem fort seine lebensbedrohliche Situation. Unterstrichen wird diese leitmotivisch aussagestarke Ebene durch die Musik, wie es im inhaltlich pointiert gestalteten Booklet zur Aufführung heißt: „Die Songs sind Echos auf die Szenen Büchners, umspielen diese, setzen Ausrufezeichen, betonen Gefühle, halten Momente in Musik fest, ziehen uns als Zuschauende und Zuhörende auf die Pfade ihrer Gefühlswelten, machen uns nachdenklich, geben uns eine zusätzliche Chance Woyzecks Schicksal zu erleben und zu erfahren.“ (Programmheft S. 8)

„Every night she comes to take me out to dreamland …“

Im Gegensatz begegnet Woyzeck seiner Marie mit großer Hingabe, zärtlich und voller Begehren, „Climb the ladder to your dreams“, wie es im Schlaflied heißt. Diese zarten Begegnungen zwischen Woyzeck und Marie – u.a. in der Begegnung von Woyzeck und Marie, wenn der Song Coney Island Baby spielt und Woyzeck singt: „Every night she comes to take me out to dreamland / When I’m with her, I’m the richest man in the town.“ – kontrastieren im Stück mit einem anderen Begehren, das grob und verletzend, voller Missachtung und egoistisch einer mechanistischen sexuellen Befriedigung dient, wenn der Tambourmajor sagt: „Da, siehst du sie? Was’n Weibsbild. Zum Fortpflanzen von Kürasierregimenter und zur Zucht von Tambourmajors. (…)“ Eine berührende Szene erleben wir, wenn Marie auf der Bühne sitzt, neben sich ihr Kind, einen Spiegel in der Hand, der Song „A good man is hard to find“ spielt und Marie sagt: „Was die Steine glänze! Was sind’s für? Was hat er gesagt? – Schlaf Bub! Drück“ Drück die Auge zu, fest. (…)“ Woyzecks große Sehnsucht ist im Song „Coney Island Baby“ ausgedrückt, er imaginiert eine Zeit des Glücks, das er mit ihr hatte und das er wiederfinden will, weil ihn seine „Rose, eine Perle“ in Gang hält. Hier blitzt eine große poetische Energie auf, die auf die Songtexterin Brennan zurückgeht und in der Erweiterung des Büchnerschen Textes deutlich spürbar wird.

Alle Songs stehen für sich und sind doch Teil der Welt Georg Büchners, seines Lebens, wie es unter anderem in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck kommt. In noch einem zentralen Punkt ist Woyzeck keine Fiktion. Büchner stützte sich als Quelle für seinen Stoff auf ein Gutachten der Zeit, in dem ein beschuldigter Mann namens Woyzeck eines Mordes beschuldigt wurde, der angeblich unzurechnungsfähig war. Diesem Stoff, der Einbettung von Personen in ihre Zeit, ist auch Max Frisch 1958 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner Preises nachgegangen. Das hat uns an Literatur immer interessiert und fasziniert, deshalb lesen wir und deshalb gehen wir ins Theater. Und von gutem Theater, wie wir es derzeit im Vorarlberger Landestheater sehen und erleben, wie auch an anderen Bühnen dieses Landes, können wir nicht genug kriegen. Woyzeck schlägt voll ein, der durch Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan erweiterte Büchner Text, die Songs im Weill-Sound intensivieren die dramaturgischen Gesten der Figuren, sie dringen treffsicher in die Herzkammern der Kunst und des Lebens ein. Das gesamte Ensemble des Theaters, vom Schwarzen Cabaret über Vivienne Causemann als Marie und Felix Defèr als Woyzeck, inklusive phantastischem Bühnenbild und umwerfenden Kostümen (Ines Burisch) mit all denen auch hinter der Bühne, die für gutes Licht sorgen, haben uns leidenschaftlich überzeugt.

Regie: Tobias Wellemeyer
Bühne und Kostüm: Ines Burisch
Musik: Tilman Ritter
Choreographie: Marita Erxleben
Dramaturgie: Ralph Blase
Mit Vivienne Causemann, Felix Defèr, Katrin Hauptmann, Luzian Hirzel, Maria Lisa Huber, David Kopp, Nico Raschner, Jürgen Sarkiss
Weitere Termine:
Di 22.9. / So 27.9. / Do 8.10. / Sa 24.10. / Mi 28.10. / Fr 13.11.
jeweils 19.30 Uhr
Vorarlbergr Landestheater, Bregenz
www.landestheater.org