Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Peter Niedermair · 18. Feb 2021 · Theater

Arthur Miller: All meine Söhne – Ein Probenbesuch am Landestheater

Nach langer theaterloser Zeit hatten die Intendantin Stephanie Gräve wie der Regisseur Niklas Ritter mit dem Theaterteam gehofft, die Premiere des Arthur Miller Stückes könnte am 12. Februar stattfinden. Daraus wurde nichts. Die Premiere, so die verlängerte Hoffnung, wird voraussichtlich im Mai ...

„Warten an einem Bahnhof auf den Zug, der nicht kommt“

Arthur Miller (1915-2005) war einer der ganz großen amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen Stücke bis in die aktuelle Gegenwart wichtig und theaterwirksam sind. Als gesellschaftskritischer Dramatiker behandelt er mit den Mitteln des analytischen Dramas in der Tradition von Henrik Ibsen vornehmlich jene Fragen, die der American Way of Life bereitstellt. Dessen bis heute weitum gültige Lebensmaxime zielt auf den individuellen beruflichen Erfolg des Einzelnen. Der scharfsinnigen Miller‘schen Analyse ausgesetzt, zerplatzt dieser jedoch als Castle in the Air, als Seifenblase, die die ethische Verpflichtung des Einzelnen wiederholt in die Widerspenstigkeiten und Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft hineinspiegelt, deren Lebenslügenhaftigkeit entlarvt und oft tragisch entzaubert.
Millers „All My Sons“ entstand in den späten 1940er Jahren, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Historisch gesehen kontextualisiert Arthur Miller in seinem ursprünglichen Theatertext die tragische Geschichte in die Auseinandersetzung von Fragen, die wir in einem kapitalistisch getriebenen, von Gier beseelten Motiv verorten können und auf der Ebene der Folgen auf der Bühne als menschliches Familiendrama beobachten. Wenn man Millers Autorenbiographie durch den Fokus seiner Theaterliteratur sieht, bleiben großartige Theaterstücke, von „Alle meine Söhne“ über „Hexenjagd“ bis zu „Der Tod eines Handlungsreisenden“, die er in den „Zeitkurven“ („Timebends“, 1989), gesellschaftspolitisch und biographisch reflektiert.
Kaum ein anderer amerikanischer Autor hat eine so intensive Auseinandersetzung mit dem politischen und kulturellen Leben der Vereinigten Staaten präsentiert wie Arthur Miller. Er kam aus einem New Yorker jüdisch-bürgerlichen Elternhaus und war einer der ganz großen Intellektuellen, der über die McCarthy-Ära und die Fünfziger Jahre berichtet. Miller hat wie kaum andere Autoren über die Politisierung der Literatur und Gesellschaft geschrieben. Seine Ehe mit Marilyn Monroe ist ein eigenes Kapitel und nahm einen zentralen Platz in seinem Leben ein, ebenso wie die Ehe mit Inge Morath, der weltberühmten Fotokünstlerin aus Wien. Miller hat viele meiner Generation, die in den Fünfziger Jahren Geborenen, in der Entwicklung politischer Fragen mitfundiert.

Exzellente Theaterleistung …

Das Team des Landestheaters unter der Leitung von Stephanie Gräve: Inszenierung: Niklas Ritter; Bühne: Niklas Ritter, Ines Burisch; Kostüm: Ines Burisch; Musikalische Leitung: Tilman Ritter; Livemusik: Tilman Ritter & Pauline Jung mit: Vivienne Causemann, Luzian Hirzel, Konstantin Lindhorst, Katharine Uhland; Licht: Arndt Rössler; Dramaturgie: Ralph Blase. Mit: Günter Alt (Joe Keller), Vivienne Causemann (Ann Deever), Luzian Hirzel (Chris Keller), Pauline Jung (Lydia Lubey), Konstantin Lindhorst (George Deever) 

… in einem exzellenten Stück

„All My Sons“ ist ein Dreiakter, aus dem Englischen übersetzt, das Arthur Miller 1946 schrieb. Es wurde am 29. Januar 1947 am Broadway im Coronet Theatre in New York City uraufgeführt, am 8. November 1949 geschlossen und lief für 328 Vorstellungen.
Zum Inhalt des Stücks: Nach jahrzehntelanger Mühe hat sich Josef Keller zum Fabrikbesitzer mit großem gesellschaftlichem Rang und Namen emporgearbeitet. Um sich selbst, seiner Frau und den beiden Söhnen Larry und Chris ein Leben in Wohlstand bieten zu können, hatte er während des Zweiten Weltkrieges funktionsunfähige Zylinderköpfe an die Luftwaffe geliefert. Seine Schuld an dem Tod von 21 jungen Soldaten konnte er auf seinen Geschäftspartner Steve Deever abwälzen, der an seiner Stelle verurteilt wurde und seither im Gefängnis sitzt. Jetzt, in der Gegenwart, holt Keller die Vergangenheit wieder ein: Sein Sohn Larry, der bei einem militärischen Einsatz umkam, gilt als Kriegsheld und ermöglicht Keller lebensdramaturgisch die Pose des leidgeprüften patriotischen Vaters. In einem letzten Brief an seine Verlobte Ann, der Tochter von Deever, hatte Larry jedoch bekannt, von den Verbrechen seines Vaters erfahren zu haben. Aus Scham darüber war er freiwillig in den Tod geflogen. Als Ann und ihr Bruder George den Fabrikanten mit ihrem Wissen konfrontieren, versucht er sich zunächst herauszureden. Doch durch die Verzweiflung seines Sohnes Chris aufgerüttelt, erkennt er schließlich seine Schuld und richtet sich selbst.
Schauplatz des Dramas ist der Garten des Hauses Keller. Das Drama spielt an einem Sonntag einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, aus dem Larry, der älteste Sohn der Familie, nicht zurückgekommen ist. Nur seine Mutter, Kate Keller, kann sich nicht mit dem Tode ihres Sohnes abfinden. Sie glaubt an seine Rückkehr. Diesen Glauben sollen alle mit ihr teilen, auch Ann Deever, Tochter des erwähnten Partners und Verlobte des verschollenen Larry.

Die Regiearbeit

Niklas Ritter inszenierte am Vorarlberger Landestheater bereits „Welt am Draht“ und „Antoinette Capet. Die Österreicherin“. Mit Millers „Alle meine Söhne“, ein Stück, das auf wahren historischen Begebenheiten beruht, ist er als Regisseur wiederum zu Gast am Vorarlberger Landestheater und setzt damit eine bereits vieljährige, interessante Theaterkooperation mit Stephanie Gräve fort. Das Stück passt so recht in die Inszenierungspraxis der Intendantin, die mit Arthur Millers „Alle meine Söhne“ die Rezeption des Stücks über das gesellschaftspolitisch-familiale Drama hinaus auch auf die geographisch-historische und nach wie vor politisch hochaktuelle Thematik der Waffenproduktion hier am Bodensee aufmerksam machen möchte. Und dies ohne jegliches pädagogische Zeigefinger Theaterpathos. Die Dichte von Rüstungsbetrieben ist fast nirgends in Europa so hoch wie rund um den Bodensee.

„World of Warcraft“

Als Gründungsvater der Waffenindustrie gilt Ferdinand Graf von Zeppelin mit seinen Luftschiffen, die im Ersten Weltkrieg zur Aufklärung und später auch zur Bombardierung genutzt wurden. In der Folge siedelten sich Luftfahrzeug-Motorenbauer und dann Rüstungsbetriebe rund um Friedrichshafen an. Als die Siegermächte dem Deutschen Reich nach dem verlorenen Krieg die Rüstung untersagten, wanderten die Waffenschmieden in die nahe Schweiz ab, wo sie ihr Geschäft weiter betrieben. Das Nazi-Regime mit seiner gewaltigen Aufrüstung brachte Friedrichshafen nach 1933 einen zweiten enormen Aufschwung. In der Nacht vom 27. auf den 28. April 1944 wurde die Rüstungsstadt, die im Zweiten Weltkrieg elfmal bombardiert worden war, erneut das Ziel eines Angriffs der Alliierten. Insgesamt kamen bei diesen Angriffen rund 1000 Menschen um. Die Innenstadt wurde komplett zerstört, die Waffenproduktion ging aber weiter. „Das Fachpersonal und das Wissen blieb in der Region“, sagt der studierte Maschinenbauer Lothar Höfler aus Lindau, der selbst 14 Jahre in der Rüstungsindustrie tätig war, heute engagiert er sich bei der Friedensinitiative „Keine Waffen vom Bodensee“. Rund 20 größere Firmen residieren heute in Kreuzlingen, Friedrichshafen oder Lindau, dazu kommen noch mindestens ein Dutzend Zulieferbetriebe, stellt die Initiative fest. Sie spricht vom „schmutzigen Hinterhof des Bodensees“, den sie seit Jahren akribisch genau beobachtet und auf ihrer Homepage dokumentiert. Es sind schwere Rüstungsgüter, für die wesentliche Bauteile um den See entwickelt und produziert werden: Lenkantriebe, Panzer, Lenkwaffen, Sprengkörper, Munition, militärische Satelliten, Hightech-Radarsysteme, Nachtsichtgeräte oder Sturmgewehre.
Der Wohlstand im Bodenseekreis, der sich von Überlingen bis Friedrichshafen erstreckt, ist eng verknüpft mit den Rüstungsbetrieben, die Tausende von Mitarbeitenden beschäftigen. Diehl Defence mit Sitz in Überlingen etwa, rechnet im laufenden Jahr mit 2480 Mitarbeitenden mit 490 Millionen Euro Umsatz. Die Initiative „Keine Waffen vom Bodensee“ kommt auf über 7000 Arbeitsplätze direkt in der Rüstung, wenn sie alle Arbeitsplätze am See zusammenzählt.

 „Was ist mit dieser Familie passiert?“

Mit den Mitteln und der Methode des analytischen Dramas nach Henrik Ibsen, wie gesagt, werden in Millers Stück sechs Personen auf die Bühne gestellt, die im Verlauf von nicht ganz zwei Stunden ohne Pause mit den narrativen Werkzeugen des Dialogs die ganze Geschichte und die Beziehungen der Figuren enthüllen. Die Vergangenheit, die nicht verschwindet, hat einen andauernden Einfluss auf die Gegenwart. Im ersten Akt werden die Spannungen zwischen den Figuren in einer Expositionsphase offen gelegt, mit wunderbaren Songs, die eigens für diese Aufführung komponiert und geschrieben wurden, die im zweiten und dritten Akt sukzessive an die Oberfläche gebracht werden. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Die emotionale Unsicherheit der Mutter, die sich in den obsessiven Illusionen über ihren toten Sohn manifestiert, entsteht durch ihre Angst und ihren Aberglauben. Gleichzeitig weiß sie alles.
Als vom Geschehen auf der Bühne gebannt Zuschauende erleben wir, wie die bestens disponierte Schauspielerei dieser Ensemblemitglieder alle Dialoge meisterhaft trägt, die leisen Passagen ebenso wie die lauten, die in dieser Heftigkeit auf dem Theater eher selten zu hören sind.
Erwähnenswert auch das sehr reduzierte und dennoch starke Bühnenbild, mit dem schwarzen Schnee, der Zentimeter-tief auf der Bühne liegt, die Asche der Toten, symbolisch, mit dem zentral positionierten Tisch, an dem alles auf der Beziehungsebene verhandelt wird. An ihm wird spürbar, wie im psychoanalytischen Sinne alles in die Sprache will, was im Inneren eingelagert ist. In diesen qualvoll wirkenden Episoden wird durch die großartige Inszenierung die Schuld der Beteiligten herausgearbeitet, und wir erfahren – weder kathartisch noch brechtisch –, wie die Hoffnungen und Illusionen der Protagonistinnen und Protagonisten zerbrechen.
Das Ringen um die Wahrheit, die mit der gesellschaftlichen Verantwortung einhergeht, die mit außergewöhnlichem Schauspiel ausgetragen wird, ist ein weiterer Baustein für die Hoffnung, dass wir bald wieder ins Theater gehen können, damit wir wieder mehr zu reden haben. Die sozialkritische Auseinandersetzung mit dem American Dream hat in dieser Inszenierung einen Spurwechsel auf eine psychologische Schiene vollzogen. Zentral ist die Erörterung der Schuld-Thematik und die Vater-Sohn-Beziehung. Haben sich die Väter, wie später auch Willy Loman im „Handlungsreisenden“ mit ihrem beruflichen Versagen und mit dubiosen moralischen Standards schuldig gemacht?  
Unter McCarthys Hexenjägern machte sich Arthur Miller deswegen verhasst, weil der Dramatiker ihr Amnestie-Angebot kaltschnäuzig abgelehnt hatte: Man wollte alle Anklagepunkte, er sei Kommunist und anti-amerikanischer Umtriebe schuldig geworden, gegen ihn fallen lassen, wenn sich Marilyn Monroe mit dem Ausschussvorsitzenden Francis Walter fotografieren ließ. Dazu schrieb Miller in den „Zeitkurven“: „Die waren nur gierig auf Schlagzeilen und auf maximales Medien-Interesse, das war alles."