Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Peter Füssl · 08. Jun 2018 · Tanz

Ungezügelte Energie und stille Meditation - grandioser tanz ist-Festival-Auftakt mit „Aghori“ von Shailesh Bahoran

Dankenswerterweise ist es nicht immer ganz leichte Kost, was tanz ist Festival-Mastermind Günter Marinelli den Vorarlberger Tanz-Fans zu bieten hat, dafür eröffnen sich am Dornbirner Spielboden oft neue und interessante Perspektiven des zeitgenössischen Tanzes, und das Gebotene ist qualitativ stets erstklassig. So auch beim diesjährigen Festival-Auftakt mit der österreichischen Erstaufführung von „Aghori“ des in Surinam geborenen und in den Niederlanden lebenden, indischstämmigen Tänzers und Choreografen Shailesh Bahoran. Seine atemberaubende Mischung aus Breakdance, hindustanischer Tradition und Theaterperformance wurde vom Publikum mit tosendem Applaus belohnt.

Um ans Licht zu gelangen ...

Indischer Gesang hallt durch die Finsternis, bis sich ein einsamer Scheinwerferkegel seinen Weg von der Decke zum Boden bahnt und den Blick auf den mit dem Rücken zum Publikum sitzenden Guru freigibt. Es wird in etwa eine Stunde dauern, bis diese meditative Ruhe der Anfangssequenz wieder zurückkehrt. Dann wird der Guru nicht mehr allein sein, dann werden sich fünf Tänzer zum Teil wie in zeitlupenartigen Trancezuständen zu ruhigen Sitarklängen bewegen, sich sanft ineinander schmiegen und selbst bänderzerrende Verrenkungen in runden Bewegungen als schönste Harmonie erscheinen lassen.

 ... muss man durch die totale Finsternis

Dazwischen liegt ein ganzer Reigen an furiosen und spannungsgeladenen Bildern. Die in Lumpen gehüllten, mit Asche beschmierten und ziemlich verdreckt wirkenden Tänzer agieren zuerst auf einer gut zwei Meter hohen Rampe, deren Seitenwand schräg Richtung Publikum abfällt. Auf dieser äußerst ungewöhnlichen, glatten und steilen "Tanzfläche" bewegen sie sich manchmal akrobatisch, dann wieder im Rutschen eigenartige Figuren vollführend auf und ab, hin und her. Balanceakte, die nur mit einem enormen Kraftaufwand und durchtrainierten Körpern zu bewältigen sind. Man verliert – auch als ZuschauerIn – buchstäblich den sicheren Boden unter den Füßen. Einzig der Guru kann die schräge Ebene ohne Mühe bezwingen, weil seine Adepten – geschickt gruppiert – als lebende Leiter fungieren.

Die Tänzer winden sich später auch am ebenen Tanzboden in konvulsiven Zuckungen und wilden Verrenkungen, die nahtlos in das mit dem Breakdance verbundene Popping- und Roboting-Vokabular übergehen können, wobei manche seltsam anmutig wirkende Handbewegungen wiederum an indische Tanztraditionen angelehnt sind. Im Halbdunkel scheinen sich die Tänzer zu noiseartig klingenden Elektronikklängen in manchmal halsbrecherisch, mitunter auch aggressiv wirkenden Paar- und Gruppentänzen zu messen. Das wirkt archaisch und geht – wie auch einige kraftstrotzende Soli – wohl bis an den Rand der Erschöpfung. Es lässt sich unschwer erahnen, dass das sichtbare Durcheinander und das Chaos, in dem sich die Körper befinden, den unsichtbaren, inneren Zuständen der Akteure entsprechen. Die Finsternis mag beunruhigen und verstören, aber: wo kein Dunkel, da kein Licht.

Suche nach den Wurzeln

Der heute 35-jährige Shailesh Bahoran startete schon als 15-jähriger eine beachtliche Hip-Hop-Karriere. Seinen indischen Wurzeln ernsthaft nachzuspüren und diese Traditionen in sein tänzerisches Schaffen einzubinden, begann er dann mit 22. Dabei stieß er auch auf die „Aghori“, eine tausend Jahre alte, geheimnisvolle und sagenumwobene tantrische Sekte, die hauptsächlich in der heiligen Stadt Varanasi in strenger Askese lebt. Ihre rund tausend Mitglieder schmieren sich den Traditionen entsprechend mit der Asche verbrannter Leichen ein, haben verfilzte Haare und kleiden sich in Lumpen, verwenden einen Totenschädel als Bettelschale, halten sich nicht an gängige Konventionen, gebärden sich oft völlig verrückt, pflegen teils ekelerregende Kulte, und verfolgen dennoch oder gerade damit das Ziel, endgültige Erleuchtung zu erlangen. So zumindest aus dem Blickwinkel der Skeptiker betrachtet, andere halten sie für heilige Männer. Die Aghori dienen in diesem Stück als „role models“, aber es ist klar, dass es Shailesh Bahoran, der am Spielboden übrigens zum ersten Mal selbst in diesem Stück mitgetanzt hat, nicht auf bloße Äußerlichkeiten ankommt, sondern auf den spirituellen Gehalt. Er will nicht nur die Außenseite der Muschel zeigen, sondern auch deren Innenleben, wie er im KULTUR-Interview* erklärt. Dieser Hintergrund wird in einer kleinen Ausstellung im Foyer eindrucksvoll aufgezeigt – ihn zu kennen, steigert das Verständnis und somit das Vergnügen am Gebotenen.

*siehe: http://www.kulturzeitschrift.at/kritiken/tanz/zum-dunkelsten-in-sich-selber-vordringen-um-das-licht-zu-sehen-tanz-ist-festival-spielboden-interview-shailesh-bahoran

 

„Aghori ist am Sa, 9.6., um 20.30 Uhr nochmals am Dornbirner Spielboden zu sehen. Bereits um 19.30 Uhr wird im Spielboden-Kino ein Film über Shailesh Bahoran gezeigt.
www.spielboden.at