Junge Stimmen im Interview mit Michaela Ortner-Moosbrugger. (Foto: Ivo Vögel)
Peter Füssl · 28. Mai 2024 · CD-Tipp

St. Vincent: „All Born Screaming“

Auf dem Album-Cover schwingt Annie Clark, die unter dem Pseudonym St. Vincent ihr siebtes und erstmals zur Gänze selbstproduziertes Werk vorlegt, ihre brennenden Arme wie Flügel. Ein eindrucksvolles Bild für den unentrinnbaren Untergang, oder – ganz im Gegenteil – für den Phönix aus der Asche? Bei der schon seit Langem in New York lebenden, extravaganten Singersongwriterin und exzellenten Gitarristin und Multiinstrumentalistin darf man sich nie sicher sein, denn sie liebt das Spiel mit der Ungewissheit, der Mehrdeutigkeit, das den Fans ganz persönliche Interpretationsmöglichkeiten offenlässt.

Dementsprechend schlüpft sie auch für jedes Album in eine neue Rolle und nennt den legendären musikalischen Gestaltwandler David Bowie als unerschöpfliche Inspirationsquelle. So verwundert es auch nicht, dass der an den 1970-er Jahren orientierte, entspannte Soul-Pop-Sound ihres letzten Grammy-dekorierten Albums „Daddy’s Home“ (2021) weit raueren Tönen weichen musste. „Post-Plague-Pop“ nennt Clark selbstironisch die gar nicht so pestverseucht wirkende Mischung aus Industrial Rock, Alternative Pop, Lounge, Art-Rock und auf modularen Synthesizern kreierten Electronic-Klängen – bis hin zu einem unerwarteten Ausflug in Richtung Reggae, wie ihn selbst Talking Head-Chef David Byrne (ein weiterer ihrer wichtigsten musikalischen Buddies) nicht besser hinbekommen hätte. „All Born Screaming“ – alle kommen mit einem Schrei zur Welt. Das bedeute, dass man lebt, Grund zur Freude, so Clark. Aber zugleich sei der Schrei auch ein Protest gegen die Grausamkeiten, die zu leben ebenfalls bedeutet. Unter diesem Grundthema vereinen sich zehn Songs zu Liebe, Selbstzweifel, Verlust, Verzweiflung und Tod in einem breiten Spektrum von tiefster Düsternis bis zu sphärischer Helligkeit – und Annie Clark gelingt es mit ihrem ausdrucksstarken und wandlungsfähigen Mezzosopran auf bewundernswerte Weise, all diesen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Der Opener „Hell Is Near“ hebt alles andere als höllisch mit sanften Gesängen zu Ambient-Klängen ins Mystische ab. Auch „Reckless“ startet ruhig mit zum Piano geflüsterter Zerbrechlichkeit, ehe es sich zunehmend zu einem wolkenverhangenen Industrial-Rock-Gewitter steigert. In dieselbe Kerbe schlägt „Broken Man“ – aus dem exzellenten Video dazu stammt auch das Album-Cover-Foto – mit seinem donnernden Bass und gnadenlos vorantreibenden Drums. Kein Wunder, sitzt hinter diesen doch ein gewisser Dave Grohl, den Clark bei einem kleinen Abstecher ins Grunge-Business anlässlich der Aufnahme von Nirvana in die Rock and Roll Hall of Fame 2014 kennengelernt hatte. Grohl trommelt auch den nächsten Song „Flea“ in Prog-Rock-Gefilde. Bei „Big Time Nothing“ werden zu Funk und Falsett Erinnerungen an einen anderen prominenten Pop-Toten wach, an Prince. Der unter die Haut gehende Song „Violent Times“ ist ganz großes Kino und würde jedem „Bond“-Streifen gut als Titelsong stehen. Mit ätherischem Schmeichelgesang verzaubert „The Power’s Out“ – aber Vorsicht, wie so oft bei St. Vincent, stehen die Lyrics diametral zur Musik. „So Many Planets“ heißt dann der bereits erwähnte Reggae-Song, der die gute Laune zum Schluss hin steigert. Der Titelsong „All Born Screaming“ fungiert schließlich als Closer und wandelt sich in sieben Minuten vom flott groovenden 80-er Pop, über abrupt endende elektronische Noise-Einwürfe zum ätherisch-bombastischen, ultralangsamen Mantra-Gesang zu pulsierenden Rhythmen. Ein weiterer Geniestreich aus dem Hause Clark!

(Virgin/Universal) 

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juni 2024 erschienen.