Kris Lemsalu im Magazin 4 im Rahmen des Bregenzer Kultursommers (Foto: Magazin 4)
Michael Löbl · 20. Apr 2024 · Musik

Royals im Festspielhaus

Petrenko war in Bregenz – allerdings nicht „unser“ Kirill, sondern sein Namenskollege Vasily gab sein Debüt bei den Bregenzer Meisterkonzerten

London Philharmonic, London Symphony, Royal Philharmonic, Philharmonia – es ist wirklich nicht einfach, im Dschungel der Londoner Orchesterszene den Durchblick zu bewahren. Auch sich an den jeweiligen Chefdirigenten zu orientieren hilft nicht wirklich, zu schnell wechseln hier Ämter und Positionen.

Am Donnerstagabend war jedenfalls das Royal Philharmonic Orchestra im Rahmen der Bregenzer Meisterkonzerte zu Gast, unter der Leitung seines Music Director Vasily Petrenko. Ob einige im Publikum vielleicht doch Kirill Petrenko erwartet haben? Den in Vorarlberg aufgewachsenen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker?

Karriere in England

Vasily Petrenko stammt aus St. Petersburg und hat seine Karriere zum größten Teil in England gemacht. 15 Jahre lang leitete er höchst erfolgreich das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra (ja, auch dieser Klangkörper ist königlich!), anschließend war er sieben Jahre Chefdirigent des Oslo Philharmonic Orchestra, bevor er vor drei Jahren wieder nach England zurückkehrte.
Warum das Konzert mit Beethovens Egmont-Ouvertüre eröffnet wurde, bleibt rätselhaft. Sie passt überhaupt nicht zu den anderen beiden Werken, sie war bereits im letzten Meisterkonzerte-Zyklus zu hören, als Einspielstück ist Beethoven zu schade und die Befürchtung, das Programm wäre zu kurz, hat sich als vollkommen unbegründet erwiesen. Inklusive dreier Zugaben dauerte der Abend im Gegensatz zu den vom Veranstalter angepeilten 110 Minuten genau vierzig Minuten länger, nämlich deren 150. Die Egmont-Ouvertüre wurde aber tadellos gespielt und man konnte schon einmal die englische Orchestertradition und -kultur bewundern.
Anschließend wandte man sich mit dem Cellokonzert op. 43 von Mieczysław Weinberg geografisch Richtung Osten. Ja, das ist jener polnisch-ukrainisch-russische Komponist, dessen Werke lange Zeit so gut wie unbekannt waren. Was sich 2010 schlagartig änderte, als nämlich David Pountney, der damalige Intendant der Bregenzer Festspiele, Weinbergs Oper „Die Passagierin“ entdeckte und auf die Bühne des Festspielhauses brachte, auf jene Bühne also, auf der nun Weinbergs Cellokonzert zu hören war. „Die Passagierin“ wurde zu einem Welterfolg und die Werke dieses Komponisten sind seither regelmäßig auf internationalen Konzertprogrammen zu finden.

Weinberg und Schostakowitsch

Cellisten hört man immer wieder mit denselben Konzerten von Haydn, Schumann, Dvorak, Saint-Saens, Elgar oder Schostakowitsch. Das ist bald einmal furchtbar langweilig, eine Erweiterung des Cellorepertoires wäre also dringend notwendig. Mieczysław Weinbergs Musik hat große Ähnlichkeit mit jener von Dimitri Schostakowitsch, seinem Förderer und Freund. Kann es wirklich sein, dass es neben Schostakowitsch, dessen Symphonien inzwischen Aufführungszahlen von Beethoven, Brahms oder Mahler erreichen, einen ähnlich genialen Komponisten gibt, dessen Werk – immerhin schrieb Weinberg unter anderem 17 Streichquartette und 22 Symphonien – von der Musikwelt einfach vergessen wurde? Sein Cellokonzert op. 43 lässt sich gut mit dem ersten Cellokonzert von Schostakowitsch op. 107 vergleichen und bietet die Möglichkeit, dieses Narrativ zu überprüfen. Beide Konzerte wurden innerhalb von zwei Jahren uraufgeführt, beide Uraufführungen spielte der legendäre russischen Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Weinberg beginnt sein Konzert mit einem pochenden Streichermotiv, über dem das Cello eine lange, tieftraurige Melodie singt. Nach und nach wird die Intensität gesteigert, Hörner kommen hinzu, bis es von einem Höhepunkt wieder zurück in die Anfangsstimmung geht. Ein großartiger Beginn. Leider folgt diesen außergewöhnlichen acht Minuten eine längere Durststrecke, man hat den Eindruck, dem Komponisten wäre die Puste ausgegangen. Der dritte Satz, ein Allegro, beginnt mit einem spanisch inspirierten Thema, aber auch hier kann die Spannung nicht durchgehalten werden. Ganz ähnlich wie im Konzert von Schostakowitsch folgt eine auskomponierte Kadenz. Am Ende kehrt Weinberg zum Gesang des ersten Satzes zurück und das Stück endet, wie es begonnen hat. Im direkten Vergleich zumindest der beiden Cellokonzerte kann Mieczysław Weinberg mit seinem Kollegen Dimitri Schostakowitsch nicht mithalten.  

Bekannt wie ein Popstar

Den Solopart in Weinbergs Cellokonzert spielte der junge britische Cellist Sheku Kanneh-Mason. Die Mitglieder der Familie Kanneh-Mason sind in England bekannt wie Popstars. Eine Familie mit sieben Kindern, die alle professionell entweder Violine, Cello oder Klavier spielen, ist schon außergewöhnlich genug. Ihr gemeinsamer Auftritt in der Casting-Show Britain’s Got Talent 2015 wurde von einem Millionenpublikum verfolgt und grob geschätzt zwei Milliarden Menschen sahen Sheku mit seinem Cello in der Kapelle von Schloss Windsor im Rahmen der Hochzeit von Meghan Markle und Prince Harry im Jahr 2018. Sheku gewann zahlreiche internationale Preise, darunter einen Opus-Klassik, und von der BBC wurde er 2016 zum „Young Musician of the Year“ gewählt. Mittlerweile ist er mit und ohne Geschwister weltweit als Solist und Kammermusiker unterwegs.
Sheku Kanneh-Mason spielte Weinbergs Konzert großartig und begeisterte das Bregenzer Publikum. Was ihn von anderen jungen Cellisten unterscheidet, ist sein absolut entspanntes, unaufgeregtes Spiel. Seine natürliche Musikalität weist ihm stets den richtigen Weg, inszenierte Ausbrüche oder klangliche Extreme hat dieser junge Musiker nicht nötig. Ganz selbstverständlich entwickelt er lange Phrasen wie zu Beginn des Konzertes, manchmal erweckt Kanneh-Mason den Eindruck, er wundere sich selbst über die intensiven Töne, die er seinem Instrument entlocken kann. Statt sich mittels einer Solo-Zugabe nochmals in den Mittelpunkt zu stellen, lud er die ersten beiden Cellopulte des Orchesters ein, mit ihm gemeinsam als Celloquintett zu musizieren. Herrlich.

Russische Seele

Nach der Pause dann eines der größten symphonischen Werke der Spätromantik, Sergei Rachmaninoffs Zweite Symphonie. Es gibt sicher Leute, die mit dieser Musik Probleme haben, für sie wäre dieses Riesenwerk vermutlich zu retro, ein kitschiger Schinken. Wer sich aber auf dieses Meisterwerk einlässt, wird reich belohnt: Es gibt kulinarisch gesehen nicht viel besseres als russische Emotion in Kombination mit amerikanischem Cinemascope-Sound. Dazu die Fülle an Melodien, die Rachmaninoff hier eingefallen ist und die absolut meisterhafte Instrumentation. Das Adagio mit seinem endlosen Klarinettensolo ist sicher einer der schönsten langsamen Sätze überhaupt. Jedes Orchester kann mit diesem Stück brillieren und zeigen, was es so draufhat. Das Royal Philharmonic Orchestra hat viel drauf. Äußerst disziplinierte, rund klingende Streicher, brillante Holz- und Blechbläser. Einzig die Horngruppe blieb etwas blass und ließ den berühmten „London Horn Sound“ vermissen.
Man spürt, dass Vasily Petrenko diese Symphonie bereits sehr oft dirigiert hat. Vielleicht möchte er jetzt ein wenig experimentieren und die Partitur noch etwas extensiver auslegen als sie ohnehin schon ist. Die virtuosen Teile im Scherzo und insbesondere im letzten Satz gelingen perfekt, aber wenn die Musik in die Breite strebt und Rachmaninoffs russische Seele zum Durchbruch kommt, dann bremst Petrenko noch einmal stark ab und badet gemeinsam mit seinem Orchester im Filmmusik-Modus, wodurch dann doch manchmal das große Ganze vernachlässigt wird und auch etwas zu dick aufgetragen über die Rampe kommt. Jedenfalls war es ein außergewöhnliches Erlebnis, diese Symphonie mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vasily Petrenko zu genießen. Viel Applaus im fast ausverkauften Festspielhaus und zwei Zugaben.

www.bregenzermeisterkonzerte.at

www.shekukannehmason.com

vasilypetrenkomusic.com