Neu in den Kinos: „September 5 – The Day Terror Went Live“
Tim Fehlbaum verfilmt das Geiseldrama bei den Olypischen Spielen im München 1972 als packendes psychologisches Kammerspiel – aus der Sicht jener US-Sportreporter:innen, die das Attentat live übertrugen.
Was am 5. September 1972 in München geschah, kann minutiös beschrieben werden. Jedes Detail des Geiseldramas während der Olympischen Spiele ist dokumentiert, sein Verlauf penibel rekonstruiert. Zahlreiche Dokumentar- und Spielfilme, von Kevin Macdonald („Ein Tag im September)“ bis Steven Spielberg („München“), haben sich mehr oder weniger gewissenhaft dem Tag oder seinen Auswirkungen gewidmet. Und doch gibt es ein Bild, das sich wie kein anderes in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: Ein vermummter Terrorist steht auf dem Balkon jenes Hotelzimmers, in dem mehrere israelische Olympiateilnehmer festgehalten werden. Es ist ein Bild, in dem Schrecken und Schaulust zusammenfallen: Denn das Attentat wird für ein Millionenpublikum im Fernsehen übertragen.
Auch in „September 5“ taucht dieses Bild auf, allerdings als Liveaufzeichnung. Ein Fernsehteam des US-Senders ABC hat eine Kamera auf das Gebäude gerichtet, in dem sich die palästinensischen Entführer des „Schwarzen September“ verschanzt haben. Es ist ein dem Zufall geschuldeter journalistischer Coup, der aber plötzlich die Frage aufwirft, ob man diese Bilder überhaupt senden dürfe. Mit der Antwort hält man sich im Regieraum nicht lange auf, im Gegenteil wird das Filmmaterial aus dem mittlerweile abgesperrten Olympischen Dorf hinausgeschmuggelt. „Das ist unsere Story. Und die werden wir behalten“, meint der Sportchef und spätere Programmdirektor Roone Arledge (Peter Sarsgaard). Weshalb man sich auch vehement gegen die Versuche wehrt, der Politikredaktion das Feld zu überlassen. Obwohl man von Israel, dem Sechstagekrieg und generell vom Nahostkonflikt keine Ahnung hat. Gelegenheit macht Bilder. „Hier geht es nicht um Politik. Es geht um Emotionen.“
Schwerwiegende Konsequenzen
Nun sind Politik und Emotionen bekanntlich so eng verbunden, dass man beinahe überrascht ist, einen solchen Satz im Kino zu hören. Doch für die Sportreporter in „September 5“ ist die Frage durchaus berechtigt: Hier geht es nicht nur um journalistische Ethik und Verantwortung, sondern um eine durch Tauschwert – Bilder gegen Aufmerksamkeit – verursachte Gefährdung von Menschenleben. Denn Aufmerksamkeit wollen beide, die Terroristen und die Fernsehanstalt. Und tatsächlich entdeckt man im Regieraum, als die Kamera in das Hotelzimmer der Geiselnehmer zoomt, ein eingeschaltetes Fernsehgerät. „Heißt das, die sehen, was wir sehen?“, stellt einer der Reporter die offensichtlich naive Frage mit der plötzlichen Ahnung von den schwerwiegenden Konsequenzen.
Als packend erzählter Medienthriller mit einer kompakten Laufzeit von eineinhalb Stunden verliert „September 5“ keine Zeit, um zur Sache zu kommen. Zu Beginn sind noch alle ABC-Kameras auf Superstar Mark Spitz gerichtet, um nicht zu versäumen, wie er seine Mutter am Beckenrand umarmt. Doch am zehnten Tag trifft frühmorgens die Nachricht von Schüssen im nahegelegenen Olympischen Dorf ein. Die zu dieser Uhrzeit anwesende Minimalbesetzung ist überfordert, die Situation denkbar unklar, und noch ahnt Produzent Geoffrey Mason (John Magaro) nicht, dass er zum ersten Mal in der Geschichte des Fernsehens einen Terroranschlag live via Satellit übertragen wird. Doch je mehr Stunden verstreichen und je ersichtlicher die Hintergründe werden, umso deutlicher zeichnet sich das Bild des Geiseldramas ab – dem bloß jenes fehlt, das man auch im Fernsehen herzeigen kann.
Wahre Bilder
Nach dem postapokalyptischen Thriller „Hell“ und dem dystopischen Sciencefiction-Film „Tides“ ist „September 5“ der dritte Langspielfilm von Tim Fehlbaum, mit dem der Schweizer Regisseur seine Vorliebe fürs Genrekino erneut unter Beweis stellt. Und diesmal vor allem sein Wissen um die Spielregeln, die für einen Film gelten, dessen Spannungsdramaturgie im Gegensatz zu den beiden Vorgängern keine großen erzählerischen Freiheiten gewährt: Hier zählen Verdichtung, dokumentarischer Charakter und Tempo, wenn ständig neue Informationen beurteilt und Entscheidungen hektisch diskutiert werden müssen.
Denn „September 5“ ist in erster Linie ein psychologisches Kammerspiel im zeithistorischen analogen Setting, das an Journalismus-Filme aus den Siebzigerjahren von Alan J. Pakula und Sidney Lumet erinnert – tatsächlich sollte nur vier Jahre später 1976 in Lumets „Network“ ein Nachrichtensprecher vor laufender Kamera von eigens dafür engagierten Terroristen erschossen werden. Doch im Gegensatz zu den – spätestens seit „Die Unbestechlichen“ (1976) zur Blaupause gewordenen – investigativen Kollegen wird in „September 5“ hauptsächlich gesessen, gestanden, geredet und auf Monitore gestarrt. Die Verantwortlichen im Senderaum, tatkräftig unterstützt von der fiktiven deutschen Dolmetscherin Marianne Gebhardt (Leonie Benesch), brauchen keiner Wahrheit auf die Spur kommen, sondern müssen wahre Bilder liefern. Gebhardt, die sich vor den Amerikanern nicht für die Nazi-Vergangenheit ihres Landes rechtfertigen möchte, agiert nicht nur als Stellvertreterin einer jungen antifaschistischen Generation, sondern im Gegensatz zur kläglich versagenden Politik und Polizei auch fachlich kompetent.
Der 5. September 1972 endete bekanntlich mit einem Desaster auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck. Sechzehn Jahre später, im August 1988, geben die Entführer im zum Medienspektakel gewordenen Gladbecker Geiseldrama eine „Pressekonferenz“ für Reporter:innen und Schaulustige. Deutschland sieht fern und zu.
Ab 9.1., Cineplexx Hohenems