Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Fritz Jurmann · 21. Jul 2022 · Musik

Puccinis „Madame Butterfly“: Gefeierte Festspielpremiere, die einiges auf den Kopf stellte

Wenn Ereignisse zusammentreffen wie ein neues Kapitel in der Bühnen-Ästhetik am See und ein Gewitter, das zum Abbruch dieser Veranstaltung führt, dann ist das wohl ein besonderes Ereignis, wie man es in der über 75-jährigen Geschichte der Bregenzer Festspiele kaum ein zweites Mal findet. So geschehen am Mittwoch bei der ausverkauften Premiere der diesjährigen Inszenierung von Puccinis Oper „Madame Butterfly“, die einiges auf den Kopf stellte und unter diesen Umständen erst gegen Mitternacht mit Standing Ovations der Hauskartenbesitzer im Festspielhaus endete.

Begonnen hat wettermäßig alles relativ unverfänglich, ein erster kurzer Regenguss hat sich bis zum Beginn um 21.15 Uhr wieder verzogen, doch rundum am See blitzen drohend die gelben Sturmwarnungen um die Wette mit ersten Blitzen, die immer näherkommen. Nach 30 Minuten heißt es wieder Regenschutz raus, es beginnt leicht zu tröpfeln. Nach genau einer Stunde dann plötzlich die Durchsage, dass man wegen einer drohenden Gewitterfront die Aufführung ins Haus verlegen müsse. Ein harter Schlag für die Festspiele, dass nach zwei Wochen permanenten Schönwetters nun ausgerechnet zum Premierentermin am See solches Ungemach zu verkraften ist. Doch die Situation wird professionell und schnell bewältigt – nach einer halben Stunde kann das Spiel im Haus in einer halbszenischen Darbietung in Kostümen fortgesetzt werden.

Eine Stunde lang im Trockenen

Vor allem für die rund 1.600 Besitzer von Hauskarten – die übrigen erhalten ihr Geld zurück – kann man diesem Umstand durchaus auch positive Seiten abgewinnen. Denn auf der engen Vorbühne im Festspielhaus, wo die Hauptfigur dem Bundespräsidenten in der ersten Reihe fast auf dem Schoß hätte sitzen können, komprimiert sich das Finale der Oper. Die Emotionen verdichten sich, die Abläufe werden stringenter, und das alles ist hier viel kompakter und eindringlicher zu erleben als auf der riesigen Seebühne mit den gewaltigen Distanzen. Auch der Ton der Solisten, von Chor und Orchester bleiben hier unverstärkt, so original wie in der Situation eines Orchesterkonzertes.
Dennoch hat man zuvor auf der Seebühne mit Staunen eine Stunde lang so etwas wie ein neues Kapitel in der Seebühnen-Ästhetik von Bregenz bewundert. Da wurde heuer wirklich der Schritt gewagt, sich von allzu viel Spektakel der letzten Jahre mit dem übertechnisierten „Rigoletto“-Kopf als Höhepunkt zu verabschieden und auf eine neue Einfachheit und Schlichtheit der Bühne und Ausstattung zu setzen. Die post-coronare Einstellung in vielen Lebensbereichen hat damit auch auf der Seebühne Einzug gehalten. Insider hatten so etwas geahnt, als sie im Vorfeld des riesigen zerknitterten Blattes Papier ansichtig wurden, 300 Tonnen schwer und doch federleicht in seiner Wirkung, wenn es in magischen Bildern zum Leben erwacht. Das geht alles auch ganz ohne große Bühnenmaschinerie, da werden Gefühle, Ahnungen und Hoffnungen gespiegelt, eine zerbrechliche Welt, wie geschaffen für ein Kammerspiel praller menschlicher Schicksale.    

Intendantin mit Theaterinstinkt

Diese neue Denkweise war ein mutiger Schritt, den Intendantin Elisabeth Sobotka, ausgestattet mit einer Portion Theaterinstinkt, Fingerspitzengefühl und Hartnäckigkeit, in jahrelanger Vorbereitung mit dem erstmals hier tätigen Regisseur Andreas Homoki, Intendant der Zürich Oper, und seinem Bühnenbildner Michael Levine verwirklicht hat, den Zeitgeist ahnend. Und es hat sich gezeigt, dass sich auch in so minimalistischen Dosen, auf zurückgenommene Art und Weise eindringlich und mit größter Leidenschaft spielen lässt, umwerfend spannend und eindringlich, dazu auf einem künstlerischen Niveau, das Vergleiche von Indoor-Aufführungen nicht zu scheuen braucht.
„Madame Butterfly“, endlich zum ersten Mal am See, ist ja auch eine Oper, die den Zuhörer mitten ins Herz trifft, mit ihrem Übermaß an Emotionen vom Komponisten Giacomo Puccini zum großen Musiktheater veredelt wurde und heute mit ihrer genialen Mischung aus Rührstück und großer dramatischer Oper zu den beliebtesten Opern weltweit zählt. Luxuriös bedient werden aber ebenso die Opern-Freaks mit den großen Ohren. Ihnen vermittelt die weiter perfektionierte Akustikanlage ein optimiertes Hören. Nun gibt es Lautsprecher in eigens errichteten Stationen im See, die einen möglichst räumlichen Eindruck, einen satten Orchestersound und die Übertragung der Stimmen in High-Fidelity-Qualität und Richtungshören mit hochgradiger Klangtreue vermitteln. Der Sound auf der Seebühne wird so zum Hörereignis, wie man es bisher dank Dolby Surround eigentlich nur vom Kino kannte, das See-Spiel aber wird diesmal zum detailreich ausgestatteten Seh-Spiel, das spielend über die etwas handlungsarme Geschichte trägt. Sie ist rasch erzählt.

Unglückliche Liebesgeschichte

Für den amerikanischen Marineleutnant Pinkerton ist seine Ehe nach japanischem Brauch mit der japanischen Geisha Cio-Cio-San, die sich „Butterfly“ nennt, nicht mehr als eine Episode. Schon geht das Schiff wieder zurück in seine Heimat, er verspricht baldige Rückkehr. Die Hochzeit ist schon von Beginn an durch den Onkel Bonzo belastet, der die Ehe verflucht, auch wenn sich die beiden im großen Liebesduett „Vogliatemi bene, un bene piccolino“ die Treue schwören.
Für Cio-Cio-San bedeutet diese Liebesbeziehung die große Hoffnung nach einer gesellschaftlichen Besserstellung. Zwei fremde Welten begegnen sich da, unüberbrückbar in ihren ideologischen und sozialen Gegensätzen, den Konflikten zwischen jahrhundertealter fernöstlicher Tradition und amerikanischem Highlife. Mit dem gemeinsamen Sohn träumt sie in ihrer Arie „Un bel di vedremo“ jahrelang hoffnungsvoll auf Pinkertons Rückkehr. Als dieser mit seiner amerikanischen Gattin erscheint, bricht für Cio-Cio-San eine Welt zusammen.

Japanisches Personal im Trippelschritt

Andreas Homoki erzielt durch seine statuarisch geführte Personenregie große Wirkungen, jede und jeder erhält seine ganz klar zugeordneten Charaktere, die sich auch auf die Distanz noch für die Besucher in den letzten Reihen erkennen lassen. Er disponiert die im Trippelschritt aufmarschierende, mit Kimonos und Schirmchen versehene Verwandtschaft der Geisha so authentisch, dass es nie nach japanischem Heimatabend aussieht. Ihre bunten Kostüme (Antony McDonald) heben sich kontrastreich von der weißen Spielfläche ab, auf der zum großen Liebesduett sogar noch der Vollmond aufkreuzt. Die Illusion ist perfekt und wohltuend in ihrer zurückgenommenen Ruhe.
Die Musik Puccinis verschmilzt im Stil Anklänge an die Leitmotivik Richard Wagners mit dem Reiz exotischen Kolorits der Pentatonik und seiner eigenen unverwechselbaren Tonsprache zum selbstbewussten Klangbild des 20. Jahrhunderts. Vor allem das Orchester trumpft hier mit seinen Vor- und Zwischenspielen in kräftigen Farben und naturalistischen Effekten auf, die der neue „Conductor in Residence“ der Festspiele, Enrique Mazzola, mit viel Temperament von den blendend aufgelegten Wiener Symphonikern abruft. Er ist wie ein stählernes Kraftpaket mit ganz viel Feingefühl für die Sänger, denen er genügend Raum und Luft zur Entfaltung gibt.

Großartige Besetzung  

Die usbekische Sängerin Barno Ismatullaeva ist eine ganz einfach umwerfende Cio-Cio-San. Als Bühnenfigur ein Naturereignis, das zwei Stunden auf der Bühne durchhält, in der ganzen Spannweite zwischen liebender Hingabe und letzter letaler Konsequenz. Stimmlich erfüllt sie damit eine der forderndsten, aber auch dankbarsten Partien der gesamten Opernliteratur für einen lyrischen Sopran mit sprühendem Leben und mühelosen Spitzentönen über dem Orchesterforte. Puccini hat an diese Figur seine große melodiöse Erfindungskunst verschwendet, während er die übrigen Rollen eher stiefmütterlich behandelte.
Da ist ihre Dienerin Suzuki, die die Italienerin Annalisa Stroppa mit einem wunderbar weichen Mezzo und spielerischer Hingabe ausstattet, Pinkertons Tenor besitzt durch den aus Litauen stammenden Edgaras Montvidas schönes Metall. Seine amerikanische Gattin wird von Hamida Kristoffersen amerikanisch schrill dargestellt, während für diese Partie in der Zweitbesetzung die Feldkircher Sopranistin Sabine Winter vorgesehen ist, im Herbst noch als „My Fair Lady“ beim Musiktheater Vorarlberg zu sehen gewesen.
Besonders gut als dominierende Bühnenpersönlichkeit kommt beim Publikum der amerikanische Bariton Brian Mulligan als amerikanischer Konsul Sharpless an, der Cio-Cio-San die Ehe mit Pinkerton auszureden versucht, zum Publikumsliebling aber wird sehr bald der kleine quirlige Riku Seewald als Kind Dolore aus der gemeinsamen Verbindung. Der Bregenzer Festspielchor auf der Bühne und der Prager Philharmonische Chor im Haus, Leitung Benjamin Lack und Lukas Vasilek, tragen klangvoll Wesentliches zur musikalischen Wirkung dieser Produktion bei

Spieldauer: ca. zwei Stunden ohne Pause
Weitere Aufführungen bis 21. August; Termine auf www.bregenzerfestspiele.com