Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Fritz Jurmann · 09. Aug 2018 · Musik

Neuer Bayreuther „Lohengrin“: Augen zu und durch!

Bayreuth ist das Mekka der Wagnerianer – eine Binsenweisheit. Alljährlich nehmen Tausende den Weg auf tempolimitfreien deutschen Autobahnen unter die Räder, um dabei zu sein, wenn dort allsommers Wagner auf höchstmöglichem Level zelebriert wird. Dabei gelten Wagnerianer nicht bevorzugt als Kultur-Adabeis, die sind eher in Salzburg zu finden. Wie hat mir doch die große, weise Sängerin, Regisseurin und Pädagogin Brigitte Fassbaender kürzlich in einem Interview gesagt? „In Bayreuth sind die Fanatiker, in Salzburg die Snobs, und in Bregenz ist es das ganz normale Publikum, das gute Musiktheaterproduktionen liebt.“

Winterlicher Dornröschenschlaf

Eine klare Standortbestimmung der Publikumsorientierung also mit einem deutlichen Kompliment für Bregenz. Dort ist der Bodensee mit seiner Symbolkraft für Bregenz und seine Festspiele so etwas wie die Schöpfungskraft Richard Wagners für das Bayreuther Festival. Beides sind Kleinstädte, die alljährlich in der „Saison“ aus ihrem winterlichen Dornröschenschlaf erwachen und flugs zur Weltstadt werden, Bregenz vielleicht in etwas bescheideneren Dimensionen. Die bayerische Idylle im Frankenland trumpft mit der leuchtenden Komponistengestalt des 19. Jahrhunderts auf, die bis heute viele seiner Zeitgenossen überragt. Wagners Opern in einer genialen Mischung aus Komposition, eigenem Libretto und detaillierten Bühnenanweisung sind längt im Rang von Gesamtkunstwerken angesiedelt, haben schon bis jetzt mehr als ein Jahrhundert unbeschadet überdauert und so etwas wie fast überirdische Zeitlosigkeit erlangt.

Im fünfwöchigen Programm des Bayreuther Festivals, in dem Wagners Opern und nur diese, meist mit dem vierteiligen „Ring“ im Zentrum, unverdrossen und in immer wechselnden Inszenierungen in etwa 30 Aufführungen gezeigt werden, war heuer eine Neudeutung von „Lohengrin“ an der Reihe. Das ist eine von Wagners absolut populärsten Opern, denkt man nur an den „Brautchor“ im dritten Aufzug, der als „Hochzeitsmarsch“ schlechthin Generationen von Brautpaaren zum Altar begleitet hat. Solche Novitäten muss man erlebt haben, um mitdiskutieren zu können im Kreis der erlauchten Wagnerianer, einem oft in Jahrzehnten gestählten, sehr kundigen, begeisterungsfähigen, aber auch erbarmungslos reagierenden Publikum, das seine Rolle perfekt beherrscht, kaum, dass der Vorhang gefallen ist.

Brautchor im Rattenkostüm

Als Beispiel mag die von Hans Neuenfels gestaltete vorherige „Lohengrin“-Inszenierung dienen, in der der Brautchor in Rattenkostümen gesungen wurde, weil die Handlung in einem Versuchslabor spielte. Deshalb brach nach der Premiere auch ein Buh-Orkan über den armen Regisseur herein. Kurz danach aber waren die Ratten bereits Kult beim Bayreuther Publikum.

Diese Leute wissen natürlich auch, wie sie zu Karten kommen, denn bis vor nicht allzu langer Zeit galt in Bayreuth eine Wartefrist von bis zu zehn Jahren, während der man bis zu einer Zuteilung vorgemerkt war. Manche betagteren Wagnerianer haben das glückliche Ende ihrer Odyssee deswegen gar nicht mehr erlebt. Da blühte dann auch der Schwarzmarkt, auf dem man „unter der Hand“ kurz vor Vorstellungsbeginn noch ein Ticket ergattern konnte – von 1996 ist ein Handel um das Zehnfache des  Normalpreises dokumentiert. Heute gibt es Karten zwischen 30 und 320 Euro. Aber die Einmaligkeit eines solchen Erlebnisses muss einem einfach etwas wert sein, und inzwischen wurde auch die Praxis der Kartenvergabe trotz großer Nachfrage besser organisiert.   

Stipendiatin des Wagner-Verbandes Vorarlberg

Die neue „Lohengrin“-Inszenierung ließ auch eine Abordnung des 1987 von Dr. Erich Schneider gegründeten Vorarlberger Richard-Wagner-Verbandes mit dem Vorsitzenden Peter M. Stemberger nicht ruhen, sich auf den Weg an ihre Pilgerstätte zu machen. Auch und nicht zuletzt, um dort ihre diesjährige Stipendiatin zu präsentieren und zu betreuen, die Mezzosopranistin Clara Corinna Scheurle, die es in ihrer jungen Karriere bereits bis ins Internationale Opernstudio Berlin unter Daniel Barenboim geschafft hat. Als eine Hauptaufgabe wird von den 130  Wagnerverbänden in aller Welt jährlich jungen, vielversprechenden Talenten auf Verbandskosten die Teilnahme an drei Opernaufführungen in Bayreuth ermöglicht.

Der Antrittsbesuch in Bayreuth gilt, wie es sich für ordentliche Wagnerianer geziemt, immer dem Meister selber an seinem langjährigen Wohn- und Arbeitsort, der mittlerweile zum Museum ausgebauten „Villa Wahnfried“ – „Hier, wo mein Wähnen Frieden fand“. Wagner wurde nach seinem Tod 1883 im lauschigen Garten der Villa in einer Gruft begraben, neben ihm aber nicht etwa seine erst 1930 verstorbene Gattin Cosima, die ruht in Coburg, sondern sein Hund Russ, der bei ihm wacht. Und bis heute werden die beiden Gräber jahraus, jahrein von treuen Wagnerianern geschmückt – das von Wagner mit frischen Blumen, jenes von Russ mit einem Knochen.

In seiner Einführung erläutert der Direktor der Villa Wahnfried so nebenbei, dass das 1876 eröffnete Festspielhaus auf dem berühmten Grünen Hügel als Kulturdenkmal natürlich mit keiner Klimaanlage ausgestattet sei. Das verheißt nichts Gutes bei dieser Gluthitze, auch wenn es keinen eigentlichen Dresscode gibt und man also theoretisch auch in der Badehose den „Lohengrin“ besuchen könnte. Immerhin entledigen sich die meisten Herren aber zumindest ihres Sakkos und der Krawatte, das macht die Sache erträglicher.

Dreieinhalb Stunden Spielzeit

Denn Wagner war und ist berühmt dafür, dass er dauert, und das nicht zu knapp. Auch wenn der „Lohengrin“ von 1850 etwa gegenüber den weit üppigeren „Meistersingern“ „nur“ dreieinhalb Stunden reine Spielzeit in Anspruch nimmt und das für den Normalsterblichen eine halbe Ewigkeit ist – einem Wagnerianer sind diese Opern grundsätzlich zu kurz. Aber auch er nimmt die zur Erholung der Künstler eingebauten jeweils einstündigen Pausen nach jedem Aufzug dankbar zur Kenntnis und vergisst neben der Hitze, die die knapp 2000 Besucher im großen Raum entwickeln, mit der Zeit auch die Härte der unbequemen Kino-Klappsessel. Diese gehen ebenso auf Wagners Erfindung zurück wie das gesamte Haus, das inklusive seiner scheinbaren Marmorsäulen aus akustischen Gründen durchwegs aus Holz erbaut ist und von Wagners großem Gönner finanziert wurde, dem Bayernkönig Ludwig II. 

Apropos: Nirgendwo ist so wie hier das Orchester in einer Muschel völlig unsichtbar verbaut. Nirgendwo sonst mischt sich aber auch der Klang der rund 140 Musiker unterhalb der Bühne so ideal wie hier und wird damit gegenüber den Sängern auch nie zu laut. Dafür sorgt in unserem Fall der erstklassige deutsche Wagnerspezialist am Pult, Christian Thielemann, der in der Partitur auch für geübte Wagnerohren bereits im ersten Vorspiel noch viele ungehörte Farben und Details bereit hält. Im Orchester selbst spielen ausgewählte Spitzenmusiker aus vielen Ländern, für die es eine Ehre bedeutet, an diesem besonderen Ort ihren Urlaub quasi in Wagners Diensten zu verbringen, dazu gegen gute Bezahlung.

Ähnliches gilt für den Chor, in dem qualifizierte Sänger tätig sind, die übers Jahr an deutschen Stadttheatern Hauptrollen singen. Das summiert sich dann schon zum bereits legendären Bayreuther Chorklang von einer Wucht und Intensität, die einen mit den vielen „Heil!“-Rufen auch im neuen „Lohengrin“ schlichtweg begeistert (Einstudierung Eberhard Friedrich).

Musikalisch erstklassig

Die Besetzung der Hauptpartien ist stimmlich und schauspielerisch großteils erstklassig. Es bleibt für jeden Sänger, der sich für das Wagnerfach entschieden hat, stets eine unglaubliche physische und psychische Leistung, sich einer dieser stundenlangen, fordernden Partien zu stellen, in denen Wagner mit seinen Protagonisten bezüglich Ausdauer, Höhe und Diktion keine Gnade kennt. Georg Zeppenfeld ist mit seinem Bass ein klar profilierter, auch stimmlich tragender König Heinrich, Tomasz Konieczny im Baritonfach ein draufgängerischer Friedrich von Telramund.

Die beiden Frauengestalten sind charakterlich und stimmlich wunderbar konträr gecastet: Hier die von tollen Schubertiade-Konzerten bekannte Sopranistin Anja Harteros als edle, würdige Elsa von Brabant, dort Bayreuth-Legende Waltraud Meier, die ihre dämonisch auftrumpfende Ortrud im Mezzofach nicht ganz bis zum Schluss durchhält. Der einzige Einwand betrifft die Titelpartie, die mit Piotr Beczala besetzt ist. Er verfügt zwar über einen strahlend geschmeidigen Tenor und singt auch jedes Detail korrekt, vor allem in der lyrischen Gralserzählung, allerdings verfällt er zu oft in ein Säuseln und wirkt auch schauspielerisch für diese Rolle zu wenig männlich.

Bühnenbild und Regie jedoch bleiben in einer Art Hyperrealismus stecken, flach, unpassend oder nichtssagend. Die Ausstatter Neo Rauch & Rosa Loy verorten das ritterliche Geschehen gegen die Musik in ein Elektrizitätswerk mit peinlichen Trafohäuschen, Lohengrin erscheint als Elektromonteur im Overall, die seitlich hereingeschobenen Wolkenkulissen erinnern frappant an die begrenzten Möglichkeiten eines Barocktheaters, wie man es in Bayreuth im Markgräflichen Opernhaus findet. Regisseur Yuval Sharon, erst kurzfristig eingesprungen, hatte wohl zu wenig Zeit, um auch mit dem Chor bewegungsmäßig noch etwas Sinnvolles anzufangen, auch die Personenführung der Solisten bleibt oft in Ansätzen stecken. Schlimme Ausrutscher, Bayreuths nicht würdig, sind das Duell zweier zappelnder, an Schnüren aufgehängter Maikäfer-Comicfiguren, die um Elsa kämpfen, und der zum Schwan verwandelte Gottfried, der im Schlussbild als knallgrüner Laubfrosch in Astronauten-Montur erscheint. Da bleibt für den genervten Besucher nur eines: Augen zu und durch – und die Musik genießen!       

Weitere Vorstellungen der Neuinszenierung des „Lohengrin“ stehen bei den Bayreuther Festspielen erst wieder 2019 auf dem Spielplan.