Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Fritz Jurmann · 22. Jul 2022 · Musik

Festspiel-Hausoper „Sibirien“ – Beziehungsdrama, das seine Wiederentdeckung verdient

„Sibirien“ – das ist in unserem Sprachgebrauch ein meist negativ besetzter Begriff. Er steht für Kälte, jene des Klimas und jene des Umgangs miteinander, auch für Einsamkeit, Verbannung politisch Unliebsamer. In der Oper „Sibirien“ des italienischen Komponisten Umberto Giordano, die die Bregenzer Festspiele am Donnerstag als Hausoper in ihrer Raritäten-Reihe zur Diskussion stellten, erhält dieser Begriff neue, positive Aspekte.

Hier geht es um Freiheit, die Befreiung aus Unterdrückung und Gefangenschaft in einem Happy End, das das Liebespaar dieser Geschichte letztlich genauso verspielt wie tags zuvor Cio-Cio-San in „Madame Butterfly“. Und auch hier hat sich ein internationales Künstlerteam um eine sehr stimmige und musikalisch hochkarätige Umsetzung dieser personalintensiven Vorlage bemüht. Das Premierenpublikum im vollbesetzten Festspielhaus dankte es mit vielen Vorhängen.

„Sibirien“ und „Madame Butterfly“

„Sibirien“ entstand 1903, fast zeitgleich mit „Madame Butterfly“ und wurde sogar ersatzweise für die nicht zeitgerecht fertig gewordene Puccini-Oper uraufgeführt. Hier wie dort geht es um Frauenschicksale inmitten einer Welt der Verständnislosigkeit und Kälte, beide Werke werden auch dem musikalischen Verismo zugeschrieben und liegen doch gerade hier meilenweit auseinander. Während Puccini mit lockerer Hand in den Farbtopf seiner Harmonien greift und seine Einfälle in verschwenderischen Melodien verströmt, bleibt Giordano großteils seltsam zwiespältig und unentschlossen in der Wahl seiner musikalischen Mittel.
Natürlich gibt es auch bei ihm wunderbar schmelzende Kantilenen, die sofort ins Ohr gehen und die er vor allem den beiden Protagonisten zugedacht hat. Alles ist auch hervorragend instrumentiert und klingt satt und voll Italianità. Doch Giordano weitet sein Spektrum aus. Der Tscheche Leos Janacek scheint bei ihm ums Eck gelugt zu haben, wenn es am Höhepunkt dramatischer Bühnenwendungen um entsprechende Auf- und Ausbrüche und Zwischenspiele im Orchester geht. Vor allem im 3. Akt gleitet er manchmal auch ins Operettenfach ab, manches mutet an wie eine Vorahnung auf Lehárs parfümiertes „Land des Lächelns“. Aber man soll posthum nicht ungerecht sein, natürlich hat auch Giordano, dem man in Bregenz übrigens auch den vom Publikum wenig goutierten „André Chénier“ auf der Seebühne 2011/12 verdankt, selbst genügend Einfälle, um ein wirklich eigenpersönliches Format zu kreieren.

Nur eine Oper hatte Erfolg

Umso mehr fragt man sich, warum dann dieses Geschwisterpaar der Opernliteratur so konträr unterschiedliche Aufnahme beim Publikum der folgenden Jahre und Jahrzehnte gefunden hat. Dem Sensationserfolg von „Madame Butterfly“ steht die totale Vergessenheit der Partitur von „Siberia“, so der Originaltitel, in einem verstaubten Archiv gegenüber, wo Intendantin Elisabeth Sobotka mit ihrem Team fündig wurde und Mut und finanzielle Mittel genug hatte, dieses Werk zur Neuinszenierung zu bringen.
Der unterschiedliche Popularitätseffekt mag vielleicht auch am Libretto des berühmten Luigi Illica liegen, der auch bei Puccini am Werk war. Bei „Sibirien“ will der 1. Akt mit den saufenden und kartenspielenden Gästen von Fürst Alexis in dessen Stadtpalais im alten St. Petersburg nicht so recht in die Gänge kommen. Das zieht sich, bis klar wird, dass der Fürst über Vermittlung des Kupplers Gleby die Kurtisane Stephana aushält, diese aber ihrerseits den jungen Offizier Vassili zu ihrem Liebsten erkoren hat. Der Fürst überrascht die beiden, es kommt zum Handgemenge, Vassili wird festgenommen und als Zwangsarbeiter ins sibirische Straflager verbannt. Überraschend hat seine Geliebte Stephana ihr luxuriöses Leben in St. Petersburg aufgegeben und erscheint bei Vassili. Eine geplante Flucht in der Osternacht wird durch Gleby aufgedeckt und vereitelt, Stephana stirbt. Dennoch bleibt für den Zuseher am Schluss wohl bewusst vieles offen in diesem intensiv ausgefochtenen Beziehungsdrama.

Rahmenhandlung erweist sich als Top-Idee

Der in Bregenz als Regisseur debütierende Russe Vasily Barkhatov hatte nun die Idee, diesen etwas schwer verdaulichen Ablauf als Road Movie in eine Rahmenhandlung zu verpacken. Eine alte Frau reist in Filmeinspielungen in den 1990ern von Mailand nach St. Petersburg und forscht in Archiven auf Spurensuche nach der eigenen Identität und ihren Vorfahren, immer mit einer Urne mit deren Asche im Gepäck. Die Illusion reicht am Schluss so weit, dass man als Zuseher Film und reales Bühnengeschehen kaum mehr unterscheiden kann und Fiktion und Wirklichkeit faszinierend ineinanderfließen. Ein Theater-Kniff, mit dessen Hilfe die Zeitunterschiede von Jetzt und Damals mühelos überbrückt werden.  
Zudem hat Barkhatov mit seinem Bühnenbildner Christian Schmidt und der Kostümbildnerin Nicole von Graevenitz für größtmögliche Authentizität der Schauplätze gesorgt. Das fürstliche Palais mit dem Kronleuchter von der Decke einerseits, die triste Lagersituation mit schwer schuftenden Bergwerksarbeitern auf der anderen bringen viel Atmosphäre ins Geschehen.

Der Prager Chor – ein Gedicht!

Neben der szenischen gelingt auch die musikalische Umsetzung dieser Geschichte auf exzellentem Niveau. Da ist diesmal zuvorderst der Prager Philharmonische Chor unter seinem Chef Luká Vasilek zu nennen. Allein das „Lied der Wolgaschiffer“, ein altes russisches Volkslied, das sich als Leitmotiv durch die ganze Oper, vor allem aber den zweiten Akt zieht, sorgt für unglaublich intensive Momente eines wunderbar geschlossenen Chorklanges. Das ist übrigens das einzig russische Element an dieser ansonsten durch und durch italienischen Oper. Dass der diesmal groß besetzte Chor, an dessen Qualitäten wir uns jährlich in Bregenz erfreuen, dazu in verschiedenen Kostümen auch lebendig und spielfreudig das Geschehen in den Massenszenen aufwirbelt, ist eine besondere Zugabe.
Auf gleicher Höhe agieren auch die Wiener Symphoniker, die als mittlerweile gewohntes Opernorchester auch gern solche auch für sie unbekannte Werke zur musikalischen Realisierung übernehmen und hörbar ihr Herzblut darein legen. Das klingt dann alles kompetent, satt, aber nie überladen nach wirklich „großer Oper“. Der russische Dirigent Valentin Uryupin, dem wir einen stimmigen „Eugen Onegin“ von 2019 verdanken, hat das rechte Händchen und Gespür für eine ausgefeilte musikalische Darstellung und lässt das Orchester im Finale geradezu explodieren. Fünf Studenten des Landeskonservatoriums steuern die Bühnenmusik bei.

Internationale Solistenriege

Schließlich ist in der internationalen, hoch kompetent besetzten Solistenriege zuvorderst die kanadische Sopranistin Ambur Braid als Stephana zu nennen, die wie eins scheint in ihrer Leidenschaft für diese gesanglich tragende und als Charakterdarstellerin unglaublich fordernde Rolle. An ihrer Seite der Russe Alexander Mikhailov, der sich redlich bemüht, mit seinem schlanken, hellen, aber nicht sehr tragfähigen Tenor mitzuhalten. Der Bösewicht Gleby ist beim texanischen Bariton und Festspiel-Dauergast Scott Hendricks bestens aufgehoben. Fürst Alexis erhält durch den bosnischen Tenor Omer Kobiljak würdiges Format, als liebenswürdige „alte Frau“ ergänzt die schwedische Sopranistin Clarry Bartha das Ensemble.
Hat nun diese Wiederentdeckung nach der gelungenen Premiere in Bregenz eine Chance auf ein „zweites Leben“? Im Moment hat sich das Theater Bonn für das Stück interessiert, wo „Sibirien“ von Umberto Giordano in dieser Inszenierung im Herbst herauskommen soll.

Bregenzer Festspiele: „Sibirien“ von Umberto Giordano
weitere Vorstellungen: So, 24.7, 11 Uhr; Mo, 1.8., 19.30 Uhr
Festspielhaus, Bregenz

www.bregenzerfestspiele.com