Neu in den Kinos: „Emilia Pérez“ (Foto: Neue Visionen/Wild Bunch)
Silvia Thurner · 11. Nov 2024 · Musik

Mit konstruktiver und kreativer Beharrlichkeit

Das Festival texte & töne ist ein wichtiger Anker für Neue Musik und Literatur

Die diesjährige Auflage des Festivals texte & töne im ORF-Landesstudio in Dornbirn war ein voller Erfolg. Guy Speyers, der musikalische Leiter des Ensembles Plus, hat ein reichhaltiges Programm zusammengestellt. Einige hierzulande nicht bekannte Künstler:innen wurden vorgestellt und zahlreiche Kompositionen erstmals gespielt. Die Werkdeutungen erklangen auf einem bewundernswert hohen Niveau. So konnten die Zuhörenden im bis auf den letzten Platz gefüllten Publikumsstudio konzentriert eintauchen in eine Musik, deren Wesensmerkmale unter anderem von verschiedensten Klangqualitäten getragen war. Verbunden mit den unterhaltsamen Lesungen entwickelte sich im Saal eine Atmosphäre, die die Aufmerksamkeit bündelte, die Sinne für zeitgenössische Musik und Literatur öffnete und künstlerisch sehr anregende Erlebnisse möglich machte.

Im Rahmen von fünf Konzertblöcken war das Publikum eingeladen, neue Kompositionen von Musikschaffenden mit Vorarlbergbezug und darüber hinaus kennenzulernen. Zu Beginn wurde die in Vorarlberg geborene und in Graz lebende Künstlerin Anna Maly mit ihrem Werk „Morphomie Nr. 2“ vorgestellt. Der Bratschist Guy Speyers interpretierte das Werk, das die Übergänge zwischen realen und synthetischen Klängen mit reizvollen Raumklängen auslotete, sowie als gleichberechtigte Partner zueinander in Beziehung setzte. 

Bisher nicht gekannte Künstlerinnen kennenlernen

Seit einem Jahr lebt die aus Litauen stammende Komponistin Juta Pranulyté in Vorarlberg. Erfreulicherweise hatte Guy Speyers sogleich Kontakt mit der fantasiereichen Künstlerin aufgenommen und zwei ihrer Werke ins Programm integriert. In „Pantone 702c and some other tones“ für Streichquartett spielte die Komponistin mit der reinen Quinte, mit Erwartungen und der Ausdifferenzierung von Klangqualitäten. In dieser Werkdeutung zeigten sich die schwierigen Bedingungen, mit denen die Musiker:innen im Publikumsstudio fertig werden mussten, zum ersten Mal. Denn die überaus trockene Akustik transportierte die Sounds wenig und stellte an die Ausführenden enorme Anforderungen, weil sich die Klänge relativ wenig mischten. 
Aufhorchen ließ Pranulytés Stück „meow-mouth“, das der Perkussionist Lorenzo Orsenigo präsentierte. Mit einem Lautsprecher-Mikrofon bespielte er eine große Trommel und Donnerbleche. Ständig änderten sich die Tonqualitäten während der Bewegungen über das Donnerblech und es entwickelten sich dem Titel entsprechend animalische Sounds sowie außergewöhnliche Interaktionen zwischen geräuschhaften und mehrstimmigen Klangereignissen. 
Der Komponist Martin Ritter stammt aus Vorarlberg und hat seinen Lebensmittelpunkt in Graz. Auch von ihm war erstmals ein Werk in Vorarlberg zu hören. Es ist ebenfalls im Auftrag des Ensembles Plus entstanden. Die feinsinnige Komposition namens „unending (permanent temporary state)“ forderte ein genaues Hinhören, denn ähnlich wie Pranulytés Streichquartett ging Martin Ritter von den Klangqualitäten reiner Intervalle aus und kristallisierte mittels Tonschichtungen vielfarbige Obertonspektren heraus. Schwebungen, Reibungen und Differenztöne wurden in unterschiedlichen Konstellationen austariert, in einem Geben und Nehmen zwischen den Instrumentengruppen hin und her gereicht sowie in wirkungsvollen Tontürmen geschichtet. Auch für dieses Werk hätte man sich einen akustisch tragfähigeren Raum gewünscht.

Das Repertoire erweitert

Mit einer ausdrucksvollen Komposition erweiterte Wolfram Schurig das Repertoire für Fagott solo. „Schreiten (Modes of Locomotion #1)“, die zeremonielle Vorwärtsbewegung, bildete die Inspiration für das ereignisreiche Werk, das Noah Schurig in einer hervorragenden Interpretation zur Uraufführung brachte. In einer gut proportionierten Bogenform wurde der Raum zwischen zwei konträren melodischen Hauptgedanken abgesteckt. Immer weiter spreizten sich die Linien in intensiven Spaltklängen auseinander, bis sie schließlich mit Slap-Tongues wieder beruhigt und mit verdichtenden Zeiteinheiten zu Ende geführt wurden.
Von Amy Crankshaw spielte das Ensemble Plus unter der Leitung von Thomas Gertner das Werk „Golden Hour“. Sogleich stellte sich ein atmender Duktus ein und schöne Klangschattierungen belebten die Interpretation. Doch der musikalische Fluss driftete zum Ende hin ins Illustrative ab und zudem stellte die Überlänge des Werkes hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeitsspanne der Zuhörenden.

Ensemblemusik in orchestralem Gewand 

Nikolaus Brass komponierte im Auftrag des Ensembles Plus das Werk „Im Tal (Tag und Traum 1)“, das im Rahmen des zweiten Konzertblockes uraufgeführt wurde. Die breit gefächerte Instrumentation, die zusätzlich zu den Streich- sowie den Holzblasinstrumenten auch eine Trompete vorsah, verlieh dem gehaltvollen Werk einen orchestralen Charakter. Die Klangfarben setzte der Komponist mit viel Bedacht ein. Es entfalteten sich atmosphärische Flächen, die ein weites Panorama öffneten: einesteils idyllische Klanglandschaften, andernteils treibende, aufgewühlte Trillerflächen, die auch bedrohliche Traumlandschaften beschrieben.

Stark gestikulierende Lieder

Mit Spannung wurde die Uraufführung der „Fünf Lieder für Sopran und großes Ensemble“ von Gerald Futscher erwartet. Erstmals hat er Gedichte seines Bruders, Christian Futscher, vertont. Die Sopranistin Christie Finn gestaltete den Vokalpart hervorragend und mit facettenreichem Ausdruck. Ihre Stimme gliederte sich als kammermusikalische Partnerin zwar exzellent in den Ensembleklang ein, teilweise wirkte jedoch das Ensemble etwas zu dominant. Der gestisch vielfältig gestaltete Instrumentalpart entwickelte sich in einem aktiven Mit- und Gegeneinander der Stimmenverläufe, sodass sich neben dem dichten Klanggeflecht auch wirkungsvolle Klangfarbenspiele herauskristallisierten. Die Dramaturgie der fünf Lieder war geschickt zwischen Bewegungsimpulsen und irisierend ineinander geschachtelten Flächen aufgebaut. Den Höhepunkt bildete das vierte Lied mit dem markanten Text „Oje, jetzt ist die Kunst kaputt …“ Als klangliche und optische Raffinesse wurde der Sängerin aufgetragen, eine Passage unter Wasser zu singen. Scharf akzentuierte Schläge, nervös vibrierende und melismatisch gesungene Linien in „Das Lachen in den Hälsen“ beendete die Liedfolge vielsagend, indem die Singstimme vom Ensembleklang regelrecht verschlungen wurde.

Gute Texte

Erstmals arbeiteten die Organisator:innen seitens des ORF Vorarlberg mit dem literaturhaus vorarlberg zusammen. Lesungen gaben die Autorin Verena Roßbacher sowie Christian Futscher, Luca Kieser und Martin Piekar. Mit ihren Texten zogen alle vier die Zuhörenden in ihren Bann, und der Beifall für die zugleich humorvollen, hintersinnigen und tiefgründigen Texte war groß.

Konzert des Symphonieorchesters Vorarlberg – eine durchzogene Bilanz

Traditionell gestaltet das Symphonieorchester Vorarlberg den vierten Konzertblock des texte & töne festivals. Bereits zum zweiten Mal stand Xandi van Dijk am Dirigentenpult. Präsentiert wurde unter anderem die Uraufführung des neuen Werkes „Ancestral Intelligence“ der südafrikanischen Musikerin, Performerin und Heilerin Monthati Masebe. Sie hat im Auftrag des SOV ein Orchesterwerk verfasst, das zahlreiche Inputs in einer Zusammenschau vereinigt. So entstand ein Konglomerat aus stilistisch unterschiedlichen musikalischen Ideen sowie dazu geschalteten Sprechpassagen der Komponistin. Diese unterstrichen die naturhafte Atmosphäre der Musik. Markante melodische Einfälle und wirkungsvolle Ostinatofiguren boten zwar Abwechslung, doch als Ganzes betrachtet, wirkte das Werk eher plakativ.

Starke Solistin

Der österreichische Komponist Johannes Maria Staud war beim Festival mit zwei Kompositionen vertreten. Zuerst interpretierte das Ensemble Plus die reizvoll angelegte Komposition „Configuarations/Reflet“. „Oskar (Towards a Brighter Hue II)“ lautet der Titel des Violinkonzertes, das die estnische Violinistin Triin Ruubel mit großer Aussagekraft und im Zusammenwirken mit dem Symphonieorchester Vorarlberg interpretierte. Schön zelebrierten die Musiker:innen den allmählich sich aufbauenden Klangfluss am Beginn und ebbten ihn zum Ende hin wieder ab. Dazwischen brachte die Solistin den sich ständig steigernden Energielevel virtuos auf den Punkt. Über einige Passagen wirkte sie jedoch ziemlich auf sich allein gestellt, mit eher wenig Kontakt zum Dirigentenpult. 
Den Rahmen des Orchesterkonzerts bildeten zwei Werke der kroatischen Komponistin Sara Glojnarić. Während „Everything, always“ humorvolle musiktheatralische Züge aufwies, entwickelte „sugarcoating (v2.0) einen enormen musikalischen Drive. Unterschiedliche Texturen, die von Clusterklängen im Klavier hin zu pointillistisch luftigen und rhythmisch vorwärts preschenden Passagen getragen waren, wurden ausgebreitet. Doch in dieser Werkdeutung trübte die eher unebenmäßige Spielart des Symphonieorchesters den Gesamteindruck.

Entspannte Clubatmosphäre

Zum Abschluss des intensiven Festivaltages luden das Ensemble Plus und Andreas Broger mit der Uraufführung seines neuen Stückes „Gratitude“ zu einer Late Night Session. Einleitend erklangen alpine Sounds. Sie brachten eine ruhige Atmosphäre ins Studio und weckten zugleich Erwartungen. Über teils diffusen Klängen und teils akkordisch begleitenden Floskeln entfalteten die Ensemblemusiker:innen poesievolle melodische Linien, die sodann in rhythmische Klangfelder geführt wurden. Dabei gelang es Andreas Broger gut, mit den Instrumentalfarben zu spielen. Mit einem Saxofonsolo brachte er sich selbst mit einer Improvisation ein. Viele Zuhörende begleiteten die Musiker:innen bis in die Nacht hinein und genossen die entspannte Stimmung im Saal.

Zu guter Letzt

Eva Teimel führte informiert durch das Programm und gewährte im Gespräch mit den anwesenden Komponist:innen dem Publikum gute Einblicke in die neuen Kompositionen. Jasmin Ölz stellte die Autorin und die Autoren und ihre Arbeiten vor. Das Ambiente im Saal wirkte sympathisch unkompliziert und persönlich. Auffallend beim diesjährigen Festival war, dass viele junge Erwachsene die Publikumsreihen füllten und zahlreiche Besucher:innen gleich bei mehreren Konzerten verweilten, um möglichst viel aus der breit gefächerten Werkauswahl zu hören. Zeitweise schien das Studio im ORF Funkhaus aus allen Nähten zu platzen. 
Die Programmverantwortlichen und vor allem Guy Speyers können sich über eine sehr geglückte Festivalausgabe freuen. Im Laufe der Jahre hat das texte & töne festival immer mehr an Profil zugelegt und ist zum wichtigsten und unverzichtbaren Neue-Musik-Festival des Landes geworden.

Radiotipp: 3.12.2024, Ö1 Konzert, 19.30 sowie Zeitton, 23.05 Uhr