Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Thorsten Bayer · 02. Nov 2017 · Literatur

Trauer und Trost - „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ von Jan Costin Wagner

Der deutsche Schriftsteller und Musiker legt den sechsten Band um den jungen finnischen Kommissar Kimmo Joentaa vor. Wer bereits einen der vorherigen Teile gelesen hat, erkennt in diesem Fall um eine Familientragödie einige Personen und Motive wieder. Doch auch Neulingen gelingt die literarische Reise nach Turku problemlos – und mit großem Lesevergnügen.

Auf dem Marktplatz steht ein junger Mann nackt in einem Brunnen. In seiner Hand hat er ein Messer, mit dem er sich kleine Wunden zufügt. Die Polizei ist unterwegs – und der offensichtlich Verwirrte wenig später tot. Wie es dazu gekommen ist, kann sich der Polizist Petri Grönholm, der die tödlichen Schüsse abgegeben hat, am wenigsten erklären. Er wendet sich an seinen langjährigen Kollegen Kimmo Joentaa, der gerne hilft – sowohl bei der Aufklärung des Falls als auch vor allem bei der moralischen Unterstützung für Grönholm. Joentaa hat viel Erfahrung darin, traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten. Schon als junger Mann verlor er seine geliebte Ehefrau Sanna. „Kimmo ist ein Mensch, der aus dem eigenen Verlust heraus die Kraft entwickelt hat, anderen zur Seite zu stehen“, sagt Jan Costin Wagner über seinen Protagonisten, der zum sechsten Mal im Zentrum seiner Bücher steht. „Eismond“, der erste Teil, war für den Los Angeles Times Book Prize nominiert. Der Nachfolger „Das Schweigen“ wurde 2008 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und, unter anderem mit Wotan Wilke Möhring, verfilmt.

Psychologische Mechanismen

Neben der behutsamen Zeichnung seiner Figuren und dem präzisen Aufbau seiner Geschichte hebt sich der Roman durch Wagners poetischen Stil ab: „Die Stimme hinter Sakaris Stirn schwillt an, bricht auf, zerplatzt. In tausend Melodien. Er ignoriert die Schüsse, steht einfach wieder auf, läuft weiter, den Mann mit der Waffe vergessend, die folgenden Schüsse vergessend, den Tag vergessend, einen anderen ansteuernd. Dann verdichten sich die Melodien. Er kann sie übereinanderlegen. Eine auf die andere, ein Muster kristallisiert sich heraus, ein Gleichklang, während er am Boden liegt, auf kühlen, vom Wasser benetzten glatten Steinen. Ist er ausgerutscht? Der schwarze Mann steht über ihn gebeugt. Die Augen aufgerissen. Beobachtet ihn. Scheint eine Frage stellen zu wollen. Spricht er?“ Bei den Nachforschungen stoßen die Ermittler auf ehemals befreundete Nachbarn, die beide erfolglos versuchen, einen schrecklichen Unfall vor einigen Jahren zu verarbeiten. So bleibt die erste Szene am Marktplatz nicht das einzige Rätsel, das aufzuklären ist. Statt auf actionreiche Verfolgungsjagden oder Unmengen von Opfern setzt Wagner auf psychologische Aspekte, geht Schritt für Schritt Fragen von Schuld und Vergebung nach. Trotz vieler Perspektivwechsel gibt es keine Brüche in der Geschichte, die von Anfang an flüssig lesbar ist.

Gegengewicht

Bildhaft schildert er Szenen wie diese: „Seine Haare wehen im Fahrtwind, Emmas Lachen übertönt das Dröhnen des Motors, und er beschleunigt, überholt den Sommer, löst sich von der Straße, die sich in Kurven hinunter an den Badestrand schlängelt, der Wasserteppich liegt blau in der Ferne, auf dem Teppich schaukelt die kleine gelbe Fähre auf und ab, die sie auf die nah gelegene Insel bringen wird. Gelb sind auch die Felder links und rechts, die gelben Wiesen, sagt Emma immer, gelbes Gras, sie mag es, weil es nicht stimmt, Gras ist nicht gelb. Emma mag alles, was anders ist als erwartet.“
In scharfem Kontrast zum tieftraurigen Fall stehen die Figuren von Kimmo Joentaa und vor allem seiner neunjährigen Tochter, die er allein großzieht. Ihr gemeinsames Zuhause ist ein fröhlicher Ort, an dem immer wieder Freundinnen über Nacht bleiben, um länger gemeinsam am See sitzen zu können. Hier findet auch Petri Grönholm – zumindest vorübergehend – Ruhe und etwas Ablenkung.

Einklang von Handlung und Emotion

Jan Costin Wagner lebt in Langen, einer Stadt zwischen Frankfurt und Darmstadt. Er ist mit einer Finnin verheiratet, kennt ihre Heimat gut, weshalb er einige, nicht alle Bücher im hohen Norden spielen lässt. „Als ich die Idee zu Kimmo Joentaa hatte, habe ich ihn sofort intuitiv dort verortet. Ich vermute, weil er mir sofort am Herzen lag und Gleiches für Finnland, meine zweite Heimat, gilt. Ich mag es, wenn ein Schauplatz eine bestimmte Emotion in sich trägt, die mit dem Erzählten in Einklang steht. Das muss nicht Finnland sein, es kann jeder Ort sein, der diese Voraussetzung erfüllt“, sagt der 45-Jährige im Interview. Besonders fasziniere ihn an Finnland, „dass es sehr einfach ist, Ruhe zu finden. Eigentlich muss ich sie dort nicht mal suchen.“ Neben seiner schriftstellerischen Arbeit betätigt er sich auch musikalisch: Derzeit entsteht das Singer-Songwriter-Album „thief of a moon“, das thematisch eng mit dem neuen Buch verwoben ist. Einige Kostproben aus dem Album werden bei der musikalischen Lesung in Kressbronn zu hören sein.

  

 

Jan Costin Wagner: Sakari lernt, durch Wände zu gehen. Ein Kimmo-Joentaa-Roman, Verlag Galiani, Berlin, 240 Seiten, ISBN 978-3-86971-018-1, 20,60 Euro
Erscheinungsdatum: 9. November 2017

 

Lesung und Musik mit Jan Costin Wagner
Im Rahmen der Kressbronner Kriminächte
„Sakari lernt, durch Wände zu gehen“
Sa, 4.11., 19.30 Uhr
Kressbronn am Bodensee, St.-Gallus-Saal, Haus der Musik, Pfarrweg 3
Tickets an der Abendkasse zwischen € 6,- und € 12,-