Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Raffaela Rudigier · 28. Sep 2020 · Literatur

„Muttertag“ - Roman von Ralf Schlatter

Angelika hat beschlossen zu sterben und ihr Sohn soll ihr dabei helfen. Es ist der 21. Juni, der längste Tag des Jahres. Am Abend will die Mutter aus dem Leben scheiden. Der Sohn braucht Zeit und Bewegung bis dahin. Er beschließt, den Weg zu seiner Mutter zu gehen, 16 Stunden lang, von Zürich nach Schaffhausen. Dabei hat er ausgiebig Zeit zum Denken. Er möchte seine Mutter begreifen. Der letzte Tag im Leben seiner Mutter ist für ihn der Anlass, intensiv über seine Familie und seine Kindheit nachzudenken.

Das Strahlen eine Maske

„Muttertag“ heißt der neue Roman des Schweizer Autors und Kabarettisten Ralf Schlatter. Es ist ein anklagender Abschiedsbrief an eine Mutter, deren Sohn versucht sie zu verstehen. Vor allem will er wissen, warum er sie eigentlich nicht liebt. Irgendetwas ist falsch an dieser Mutter. Sie ist zu unnahbar, versteckt, gleichzeitig zu überschwänglich und zu übergriffig. Ihr Strahlen ist eine Maske. Ihr wahres Wesen, ihr Kern ist für den Sohn ein Rätsel. „Hausfrau, Mutter, Großmutter. Ist das so? Wolltest du diese Rollen? Wer warst du davor? Bevor ich zur Welt kam? Wie wird man, wer man ist? Hast du je versucht, es heraus zu finden?“ Dabei beschreibt Ralf Schlatter eine Generation von klassischen Müttern: „Du warst keine Rebellin, keine Revolutionärin. Du hast die Rolle ausgefüllt, die man dir zuschrieb. Wer immer man ist. Die Gesellschaft? Die Zeit? Vater? Der Marionettenspieler? Du? Und hast du das gern gemacht? Zwanzig Jahre lang jeden Tag ein Mittagessen kochen? Das sind, lass mich rechnen, Ferien abgezogen, rund siebentausend Mittagessen. Ach was, in den Ferienwohnungen hast du auch gekocht. Abends meist Brot und Käse, das war einfacher. Siebentausendmal kochen, für vier.“

Warum man ist

Selbstverwirklichung stand in den 1960er Jahren für Frauen eben noch nicht auf dem Programm. „Aber ja, in eurer Generation hat man das nicht gemacht. Heute ist das anders, weißt du, heute reden alle dauernd von ihren Befindlichkeiten und Bedürfnissen und von sich selber, und die Läden sind voll von Ratgebern und Erklärungsversuchen, und versteh mich nicht falsch, ich finde das gut so, was will man anderes tun im Leben als dieser letztlich vollkommen absurden Situation der eigenen menschlichen Existenz ins Auge zu schauen und vielleicht am Ende eine leise Ahnung zu bekommen, warum man ist, und wenn ja, wer. Ich könnte das stundenlang tun.“

Nichts vorzuweisen auf der Negativseite

Der Sohn geht Stunde um Stunde dem Freitod seiner Mutter entgegen. Er beobachtet die Natur, schweift ab und denkt an seine sehr traditionelle Herkunfts-Familie. Der Vater: ein aufgestiegenes Arbeiterkind und ein Macher, ein Vulkan, von dem man nie wusste, wann er ausbricht. Seine verstummte Frau: selbstlose Hausfrau und Vollzeit-Mutter, harmoniebedürftig bis zur Selbstauslöschung. Die Kinder brav in ihren Rollen. Die Tochter: leicht widerspenstig. Der Sohn: resignativ. „Wie gut hätte es mir getan, ihr hättet es mir ein bisschen schwieriger gemacht. Klar, bin ich dankbar. Für eine, wie man so schön sagt, wohlbehütete Kindheit. Ich habe nichts vorzuweisen auf der Negativseite. Bin kein Scheidungskind, wurde nicht missbraucht, nicht geschlagen, konnte den Weg einschlagen, den ich wollte, hatte immer genug zu essen, wir machten Ferien, wir bekamen Kleider, Spielzeug, hatten einen Christbaum im Wohnzimmer, was lasse ich mich hier eigentlich aus? Bin ich ein Nestbeschmutzer?“

Nothing but feelings

Das macht diese Geschichte spannend: Da traut sich doch tatsächlich einer aufzubegehren, obwohl es objektiv gesehen keinen Grund zur Beschwerde gibt. Da stellt sich die Frage – und die stellt sich der Erzähler durchaus auch selbst – sind das nur unbedeutende „first-world-problems“? Genau hier liegt die Stärke dieser Geschichte, dass es nämlich ein Mann wagt, offen über verletzte Gefühle zu reden. „Wir haben nie über unser Innenleben geredet. Das gab es nicht, das war gar nicht denkbar, nicht vorgesehen. Dafür gab es weder eine Bühne noch einen Wortschatz.“ Und genauer: „Mir hat das Unkontrollierte gefehlt, das Ungestüme, das Unbeschwerte, das Brüchige. Das, was hinter der Fassade lag. Das Wahrhaftige. Das, was ihr nicht zugelassen habt. Was man nicht zeigte. Worüber man nicht sprach.“

Das Gewicht der Ahnen

Der Ich-Erzähler denkt über den Einfluss seiner Ahnen nach: „Was habe ich alles erlebt, das mein Vater, weil sein Vater und weil dessen Vater schon? Was führe ich weiter, weil du nie, weil deine Mutter nicht und weil deren Mutter erst recht nicht?“ Dem Gewicht der Ahnen stellt der Schweizer Autor eine ganz pragmatische Idee gegenüber: „Man sollte in der Schule Ahnenforschung einführen. Alles herausfinden, was man kann, über seine Vorfahren. Mit den Großeltern sprechen, solange sie noch da sind. Stammbäume zeichnen. Die alten Fotos sammeln. Es würde viel mehr zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beitragen als die Gesetze der Differenzialrechnung.“ Das führt zu einer weiteren Idee für angewandte Wissensvermittlung: „Noch ein Schulfach, das es einzuführen gäbe: Rechnen, Lesen, Schwimmen, Ahnen, Streiten. Als Abschlussprüfung ein handfester Streit mit dem Banknachbarn. Sauber ausgetragen, sauber gelöst. Vera wäre noch da, ich bin sicher, wenn ich das hingekriegt hätte.“

Feingespür, Freiheit und Familie

Ralf Schlatter erzählt mit viel Feingespür und Humor und versteht es, banale Beobachtungen zu größeren Gedanken werden zu lassen. „Am Eingang eines Spielplatzes steht ein Schild. Darauf steht geschrieben Hunde anleinen, Kinder im Auge behalten, Abfall fachgerecht entsorgen, Rücksicht nehmen auf Anwesende und AnwohnerInnen, Mensch und Tier, Spielplatz: Helm ab, Erstickungsrisiko beim Hängenbleiben an Spielgeräten. Ich frage mich, wie man in diesem Land eigentlich frei sein soll. In einem der angeblich freisten Länder der Welt.“
Ob man sich von seinen Müttern, Familien und Ahnen je befreien kann, sei dahingestellt. Der Autor wartet diesbezüglich jedenfalls mit überraschenden Ideen auf. „Muttertag“ von Ralf Schlatter dekonstruiert die klassische Familie und gräbt tief auf der Suche nach Wahrhaftigkeit im menschlichen Zusammenleben. Der Tag geht, der Erzähler nähert sich seinem Ziel und das Ende ist seltsam überraschend.

Ralf Schlatter, Muttertag, Limbus Verlag, Innsbruck 2020, gebunden mit Lesebändchen, 152 Seiten, ISBN 978-3990391822,  € 18