Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Ingrid Bertel · 20. Okt 2015 · Literatur

Megapolis am Bodensee - Zsuzsanna Gahses neues Buch „Jan, Janka, Sara und ich“

In ihrem neuen Buch „Jan, Janka, Sara und ich“ findet Zsuzsanna Gahse stupende Bilder für das globalisierte Leben in einer Provinz, die keine mehr ist.

„Wir mussten unsere Wohnung hergeben, nicht verkaufen, sondern abgeben, und als uns das mitgeteilt wurde, waren wir sprachlos.“ Das ist der erste Satz des Buches, und ansatzlos wird klar: Sicherheit ist nirgends. Nicht für Janka, die diesen Satz sagt, und auch nicht für die 22 anderen Figuren aus Büren, der Provinzstadt auf dem Wellenberg. „Wie auf einem Sockel“ sitzt Büren, die „zukünftige Megapolis“, der Ort, „der sich im Eiltempo ausbreitet“ über dem Bodensee. Janka gefällt das. Erfreut betrachtet sie das Wachsen Bürens, wenn sie von Konstanz nach Hause fährt. „Nüchtern betrachtet gilt nur die Stadt, nur die Megastadt“, bekräftigt Max. Dagegen klagt Sandra Bahr, Büren sei unvorstellbar laut und außerdem eine einzige Baustelle, und Karl, der mit Janka zusammen lebt, beobachtet die wüste Bautätigkeit mit Wehmut.

Etwas stimmt nicht in den schnell hochgezogenen Wohnblocks. Janka merkt das, als sie ihre Sachen zum Ändern einer Schneiderin bringt, die im dritten Stock „sozusagen versteckt arbeitet“. Solche Frauen sind unerwünscht, weiß Karl. „Zudem gibt es weitere Berufe, bei denen Frauen mit ihrer Brut nicht willkommen sind. Angesehene Frauen haben meist keine Kinder …“ Es ist eine harte Welt, nicht nur eine unsichere, „groß zubeißen ist großstädtisch, in der Metropole muss man sich durchbeißen.“ Und Janka, die Sätze einhauen kann, als wolle sie einen literarischen Baugrund pilotieren, sagt: „Städtebau ist ein Geschäft.“

Klangwart Hagmann


Büren ist eine fiktive Stadt in einer realen Landschaft. Büren wird intensiv wahrgenommen und besprochen. Zu diesem Zweck besuchen einige Bürener regelmäßig das altmodische Tonstudio von Kaspar Hagmann. Sie besprechen Bänder, die sorgfältig archiviert und von niemandem abgehört werden. Offensichtlich denken die Leute dabei an die NSA, wehren sich still und überzeugt gegen das Überwacht-Werden. Gleichzeitig erwähnen sie aber auch die paradoxe Situation, dass trotz all der Satelliten ein malaysisches Flugzeug offenbar spurlos verschwinden konnte.

Nachrichtenkrank


Die Nachrichten auf den Bändern in Kaspar Hagmanns Studio sollen für sich stehen, an keinen gerichtet sein. Denn, so einige Bürener: Nachrichten machen einen krank, immer sind sie verschwommen und immer viel zu kurz: „Da stand also die Frau vor mir, schaute mir ins Gesicht und fragte, wie sich Kiew und die Ukraine – aber ich unterbrach sie schnell. Ja oder nein, ganz wie Sie wünschen, sagte ich.“ In den Nachrichten ist auch nie etwas einfach unklar, sondern „im Augenblick noch völlig unklar“, schimpft Max, „nachher fällt von der Aufklärung kein Wort.“

Zsuzsanna Gahse legt ihr sprachliches Stethoskop an den Puls unserer Newswelt. Ob Ukraine oder Griechenland – in den Nachrichten herrscht eine Gewissheit, die es in Büren nicht gibt. „… man muss jedes Mal neu erraten, welche Wurzeln gerade gemeint sind“, schimpft Martha. „Die allgemeine oder private Vergangenheit, die Verfassung einer Person, ihre Rasse oder die Bodenständigkeit.“ Und in einem furiosen Rundumschlag, für den wir LeserInnen Martha gar nicht genug dankbar sein können, sagt sie: „In den meisten Fällen ist die Rasse gemeint oder die Bodenständigkeit und damit der Ort, wo jemand Wurzeln geschlagen hat. Weh dem, der keine Wurzeln hat.“

Der pensionierte Lehrer Karl oder die junge Cara und all die anderen Besucher des Tonstudios artikulieren mit funkelnder, makelloser Präzision all die Bruchstellen zwischen dem Ländlichen und dem Urbanen.

Zufluchtsort


Martha lebt in einer Pension**, die ein Italiener mit sehr wenig Lust führt. Auch Jan hält sich am liebsten im Hotel auf, in Klingendorf auf dem Seerücken, der dem Wellenberg gegenüber liegt. Es ist sein „Zufluchtsort“, denn vor allem Jan ist „nachrichtenkrank“. Das Sprechen erscheint ihm als Verschleierungstaktik, das Schreiben noch viel mehr. Und am Erschreckendsten sind für ihn die Fernsehbilder. Nachts sieht er, wie sich in London ein Mann in den Tod stürzt – und wie Zsuzsanna Gahse darüber schreibt, erinnert an frühe Erzählungen Thomas Bernhards, so wie Jan, der in „gezüchteten Häusern“ Küchen einbaut, überhaupt eine Figur Bernhards sein könnte. Deswegen plant er auch eine Bühne in zwei Wohnungen, die übereinander liegen – und wer andererseits Zsuzsanna Gahse gelesen hat, kennt ihre Freude an der Commedia dell’arte. „Jan, Janka, Sara und ich“ ist ein Spiel, ein wunderbares Stehgreif-Theater. Die SprecherInnen in Kaspar Hagmanns Tonstudio inszenieren es, und die Ich-Erzählerin der „Taltexte“ sieht es sich konzentriert an. Die Leserin aber wird dazu verführt, das Buch immer wieder zu lesen. Zum Beispiel linear oder aber nach Personen. Sie kann sich an deren – oft nur wenige Worte kurzen – Sätzen entlangtasten in ein eigenes Spiel oder mit den Lauten (dem „a“ in ihren Namen zum Beispiel) ein anderes Spiel entwickeln. Jedenfalls wird alles ganz nah an der Spieltheorie von John Nash sein und zugleich ganz weit weg von deren grauenvollen Ergebnissen in der EU und zumal in Griechenland.

Die flimmernde Stadt


Jan möchte eine Stadt bauen, eine ganz kleine Stadt – und wenn er davon im Studio von Kaspar Hagmann erzählt, stelle ich mir New Lanark vor oder ein Phalanstère von Charles Fourier. Vielleicht ist auch Jans Stadt eine, deren Plätze und Passagen nicht aus dem Handel entstanden. Eine Stadt, in der die Wohnquartiere nicht Deklassierung bedeuten. Eine Stadt, die vielleicht das Palais Royal nachahmt oder Versailles, so wie Robert Owen und Charles Fourier das machten. Wie Bühnenprospekte nehmen sich die Städte aus, die im Studio erdacht werden, und Zusuzsanna Gahse bedankt sich am Ende des Buches für seine Anregungen beim Soziologen Richard Sennet, der die Veränderung der Städte analysiert. In Büren aber fahren die Panzer auf, die Bänder verschwinden oder werden gestohlen. Sicherheit ist nirgends. Aber das wissen Zsuszanna Gahses Figuren schon lang. Und wir können an ihrem Buch entlang über diese Erfahrung nachdenken. Spielerisch und ernst.

 

Zsuzsanna Gahse, JAN, JANKA, SARA und ich, Hardcover, 160 Seiten, € 20,00, ISBN 978-3-902951-16-8, Edition Korrespondenzen, Wien 2015