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Annette Raschner · 28. Feb 2017 · Literatur

„Für mich war klar, das muss über Mann und Frau hinausweisen …“ - „Lieben muss man unfrisiert“ – Das neue Buch von Nadine Kegele

Die Vorarlberger Schriftstellerin Nadine Kegele zählt zu den interessantesten literarischen Stimmen der jüngeren Generation. 2013 erschien ihr Buchdebüt „Annalieder“, im gleichen Jahr wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen und gewann dort mit ihrem Romanauszug „Scherben schlucken“ den Publikumspreis. 2014 publizierte der Czerninverlag den Roman „Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“. Bei Kremayr & Scheriau ist nun das Buch „Lieben muss man unfrisiert“ – Protokolle nach Tonband – mit einem Vorwort von Marlene Streeruwitz herausgekommen. Die gebürtige Bludenzerin, die in Wien lebt, hat dafür lange Gespräche mit Frauen und trans*-Personen im Alter zwischen 16 und 92 Jahren – von der Schülerin bis zur Kontoristin, von der Reinigungsfachfrau bis zur Architektin – geführt. Diese Interviews wurden von ihr zu spannenden, teils witzigen, vor allem aber bewegenden Lebensgeschichten in mündlicher Rede verarbeitet.

Annette Raschner: Das vor 40 Jahren erschienene Buch  Guten Morgen, du Schöne". Protokolle nach Tonband von Maxie Wander ist so etwas wie ein literarisches Vorbild" für Deinen Protokollband Lieben muss man unfrisiert". Kannst Du Dich noch daran erinnern, was die Lektüre des Wander-Buches in Dir ausgelöst hat?
Nadine Kegele: Ich habe das Buch regelrecht verschlungen. Und als ich fertig war damit, war ich tatsächlich traurig. Ich wollte mehr davon. Diese Geschichten der 19 Frauen waren voller Energie, und mir war schnell klar, dass ich mit dieser Energie weiterarbeiten will, dass ich etwas Eigenes machen, aber darauf aufbauen möchte. So habe ich mich an eine Neubefragung gewagt. Nicht ohne dass ich zuerst daran gezweifelt hätte, ob ich überhaupt interviewen kann. Aber mein Partner sagte dann auf meine Zweifel, dass ich es nie wissen werde, wenn ich nicht einfach damit beginne – was an sich mehr meine als seine Einstellung ist.
Raschner: Du hast lange Gespräche mit insgesamt neunzehn Personen geführt. Wie hast Du sie gefunden? Was war dir bei der Auswahl wichtig? War für Dich eine gewisse Grundsympathie notwendig?
Kegele: Mit neunzehn Frauen UND trans*-Personen, das ist essenziell. Mir war es wichtig, nicht 19 Personen zu befragen, die sich im binären Geschlechtersystem von „Es gibt bloß Frau und Mann, sonst nichts“ mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht Frau identifizieren. Ich wollte auch Personen befragen, die das differenzierter sehen, die das hinterfragen, die andere Formen von Gender kennen, zulassen, leben oder sich angeeignet haben. Gefunden habe ich die meisten über ferne Bekanntschaften, manchmal wurde ich weitervermittelt.

Akzente setzen


Raschner: 
Im Buch sind keine Fragen angeführt, doch lässt sich beim Lesen bald erkennen, dass Du offenbar doch einen gewissen Raster zur Verfügung hattest; eine Art Fragenkatalog. Gab es sowohl vorbereitete, als auch spontane Fragen?
Kegele: Was ich bei jeder Person gemacht habe, war eine persönliche Beschäftigung vor dem Interview. Am Schluss war es dann eine Mischung von allem: die Beantwortung vorbereiteter Fragen, das Weiterassoziieren von ausgehenden Fragen, die Beantwortung von Zwischenfragen, die mir während des Interviews gekommen sind oder kleiner Binnenstorys, die sich am Rande des Interviews ergeben haben. Es gab nur eine Person, die eineinhalb Stunden lang ohne Fragen durcherzählt hat, das war Fanny, ich schätze, dass man mit 92 eben viel loswerden will. Natürlich musste ich auch kürzen und Akzente setzen. Bei allen Interviews. Das Buch sollte ja insgesamt eben doch ein trotz aller Mündlichkeit literarisch zu lesendes sein.
Raschner ® Eine der vorbereiteten Fragen gilt der  Sexualität. Sehr offen sprechen die Frauen darüber, die teils heterosexuell, teils homo-, teils bisexuell sind. Roxanna, 56, Psychotherapeutin meint etwa.  Es gibt viel zu viel Gerede um Sex - um Penetrationssex." Was lässt sich Deiner Meinung nach am Thema Sexualität erkennen bzw. ablesen?
Kegele: Ich glaube, es gibt nicht die eine Antwort. Ich fand das Thema aber eben wichtig, da wird ja viel Macht ausgetragen, auch viel Ohnmacht produziert, zum Beispiel mittels heteronormativer Aufklärung – wo eben auch der Penetrationssex ganz oben steht. Von mir kann ich nur sagen, dass ich als Mädchen nicht dazu aufgefordert wurde hinzuhören. Ich habe vieles erlernt, von der Gesellschaft erlernt, was mich, im Nachhinein gesehen, doch recht ohnmächtig gemacht hat damals. Man darf nicht mit zu vielen Personen Sex haben, dann gilt man als Schlampe, man darf aber auch nicht mit zu wenigen Personen Sex haben, dann gilt man wiederum als verklemmt. Die Erzählung von Oralsex war: die Frau macht es dem Mann. Die Erzählung über Analsex war: das machen nur schwule Männer. Ich glaube, insgesamt kann heute viel offener über Sex gesprochen werden, zumindest hier, wo ich lebe, nehme ich es so wahr, aber so richtig ist alles eben trotzdem nicht überall angekommen.
Raschner: Von ihrem langen Leidensweg erzählt Helen, 45, Informatikerin, die  von männlich, heterosexuell zu trans*, weiblich, homosexuell gewechselt ist. Sie konstatiert: Harassment krieg ich zu fast hundert Prozent von welchen ab, die sich - nehme ich an - als männlich lesen würden." Ein trauriger Befund, der die Frage aufwirft: Was ist mit den Männern los? 
Kegele: Ich kenne genauso respektloses Reden von konservativen Frauen über trans*-Personen oder Homosexuelle. Ich glaube aber, dass Frauen weniger in diese Rolle gedrängt werden, dass sie andere Meinungen mittels Demonstration von Dominanz offen zur Schau stellen müssen. Männer haben in einer heteronormativ geprägten Gesellschaft das Problem, dass von ihnen eine bestimmte Art von Männlichkeit erwartet wird. Ein Patriarchat hat kein Interesse daran, dass ursprünglich als Männer gelesene Personen sagen, ich bin jetzt eine Frau, oder Frauen sagen, ich bin ab heute ein Mann, oder eben: ab heute bin ich weder noch. Das ist auch gar nichts, von dem ich denke, dass es ganz offen so durchdacht wird, ich glaube, das arbeitet subtiler. Vor allem bei Leuten, die sich keine Gedanken zu Gender machen, die annehmen, dass eben alles so ist und immer so war – was aber nicht mal stimmt.

Ambivalente Stimmung


Raschner: 
Besonders erschreckend für mich: Fast alle Frauen erzählen von sexuellen Übergriffen, mit  denen sie irgendwann in ihrem Leben  konfrontiert wurden.
Kegele: Ja, ich fand das auch erschreckend, aber ich habe es vermutet, dass alle mindestens eine Geschichte dazu erzählen können. Das war auch explizit eine Frage von mir.
Raschner: Sehr spannend in Deinem Buch lesen sich auch die Lebensgeschichten von Frauen mit migrantischem Hintergrund. Nehir, 28, juristische Mitarbeiterin ist etwa eine türkische Österreicherin und ein Gastarbeiterkind, wie sie sich selbst bezeichnet, das  mit 19 die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Sie ist besonders wütend. Ich wurde politisch gemacht, weil ich zur Türkin gemacht wurde", sagt sie. Ein - wenn man so will - typisches Schicksal einer Migrantin  in Österreich? 
Kegele: Das Interview mit Nehir war tatsächlich eines derjenigen, bei denen die Stimmung ambivalent war, für mich jedenfalls. Einerseits habe ich mich schuldig gefühlt, weil ich weiß, dass ich als autochthone Österreicherin Privilegien habe, die Nehir als österreichisch-türkisches Gastarbeiterkind nicht hat. Andererseits habe ich mit anderen Diskriminierungen sehr wohl Erfahrung, zum Beispiel Klassismus aufgrund meiner alles andere als reichen Herkunftsfamilie. Trotzdem hat das in meinem Gefühl plötzlich nichts mehr gegolten, weil es neben mir jemand schwerer hatte. Ona war das genaue Gegenteil, sie hat eine ganz unwütende Art zu erzählen.
Raschner: Nehir ist wütend, Ona, 37, aus Polen stammende  Filmemacherin ist sehr selbstbewusst - trotz ihrer Fluchterfahrung. Ich bin einfach Ona!" sagt sie. Und - zu dir: Das Buch ist dein erster Dokumentarfilm." Kannst du was mit dieser Bezeichnung anfangen?
Kegele: Onas Zitat mag ich sehr, sehr gern. Bei Dokumentarfilmen wird ja von vielen der Fehler gemacht zu denken, der wäre echt, der wäre authentisch. Dabei sind die genauso einem künstlerischen Konzept unterworfen. Es werden hundert Stunden Material zu einem Ein-Stunden-Film zusammengeschnitten. Es werden Leute, es wird eine bestimmte Bildsprache ausgewählt. Es wird auf eine bestimmte Art gefragt, die Fragen werden eventuell – wie bei „Unfrisiert“ – rausgeschnitten. Auch ein Dokumentarfilm ist artifiziell, aber mit dem Unterschied, dass er im besten Fall versucht, etwas aus der Wirklichkeit abzubilden, das noch möglichst nah an der Wirklichkeit dran ist, ohne subversiv zu entstellen oder umzulenken. Und genau das war eben auch mein Buchprojekt, und auch aus dem Grund ist es Protokoll-Literatur, die auch als dokumentarische Literatur bezeichnet wird und kein Sachbuch mit recherchierten Fakten, dem außerdem auch immer zu misstrauen ist.

Aus der Bedeutungslosigkeit holen


Raschner: 
Die älteste Frau in diesem Buch ist Fanny, 92, Kontoristin; Ein lediges Kind, das seine alleinstehende Mutter mit neun Jahren verloren, mit 14 seinen späteren Ehemann kennengelernt, die schlimmen Kriegsjahre und die schwierigen Nachkriegsjahre erlebt und sich trotzdem seine Lebensfreude und seinen Humor immer bewahrt hat. Von ihr stammen so Sätze wie ein Achtel Wein spürt das Pulver doch nicht" oder Hauptsache die Fremden freuen sich, dass sie so ein dünn ausgeklopftes Schnitzel kriegen". War das eines von den besonders beeindruckenden Gesprächen? Kegele: Fanny ist meine Nachbarin, und ich treffe sie immer sehr gerne im Stiegenhaus. Sie hat eine wunderbare Art. Manchmal gehe ich aus einem Gespräch zwischen Tür und Angel weg von ihr und habe belustigte Tränen in den Augen, weil sie einem so gut tut. Ich habe lange gebraucht, um mich zu überwinden, sie wegen des Interviews anzuhauen. Dann habe ich sie gefragt. Dann hat sie das gesagt, was fast alle gesagt haben: Aber ich habe ja nichts Interessantes zu erzählen. Und dann war ich zum ersten Mal in ihrer Wohnung, und sie hat erzählt.
Raschner: Was hat Dich angetrieben, dieses Projekt in Angriff zu nehmen? Dein Studium der Gender Studies oder vielleicht auch so etwas wie der Wunsch, Frauen aus der Bedeutungslosigkeit zu holen?
Kegele: Tatsächlich angetrieben hat mich diese Energie, die ich bei der Lektüre von „Guten Morgen“ hatte. Meinem Studium der Gender Studies habe ich zu verdanken, dass ich eben sensibilisiert war dafür, dass ich so ein Projekt 2017 nicht mit ausschließlich Frauen machen kann, Personen, die sich mit der Zuschreibung Frau identifizieren, hetero- oder homosexuell, egal. Für mich war klar, das muss über Mann und Frau hinausweisen, das tut es ja in der Welt auch. Ab irgendeinem Zeitpunkt wusste ich auch, dass das jetzt tatsächlich ein Buch wird. Ich wollte übrigens keinen Gender-Nischenverlag, sondern ganz bewusst einen Publikumsverlag. Ich wollte an Menschen herankommen, die nicht unbedingt Bücher zu Geschlechterthematiken lesen.
Raschner:Noch eine Frage am Rande: Was hat es eigentlich mit den vielen Katzen im Buch auf sich?
Kegele: Das ist eine leichte Frage. Ich habe Katzen. Wenn ein Interview bei mir stattgefunden hat, hat eine Katze auch mal vorbeigeschaut, wie bei Ingrid. Und manchmal war ich bei jemandem, die Katzen hatte, Greta zum Beispiel. Aber generell bin ich ein großer Katzen-Fan, jedenfalls von meinen Katzen. Ich glaube aber, es gibt bestimmt auch unsympathische. Wie bei Kindern eben auch.

  

Nadine Kegele, Lieben muss man unfrisiert. Protokolle nach Tonband, Mit einem Vorwort von Marlene Streeruwitz, 352 Seiten, € 22,90, ISBN 978 321 801 066 5, Kremayr und Scheriau 2017