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Ingrid Bertel · 09. Feb 2016 · Literatur

Finale Bergtour - „Am Rand“ von Hans Platzgumer

Nach Longyearbyen, Tschernobyl und ins von Erdbeben gebeutelte Los Angeles führten die Romane von Hans Platzgumer. Sein sechstes Buch aber beginnt in der Bregenzer Südtiroler-Siedlung, führt in die Heldendankstraße und endet mit einer tödlichen Bergtour.

Gerold Ebner hat einen Namen, mit dem er wirklich nichts anfangen kann. Ein Schwert-Beherrscher ist er nach eigener Ansicht wahrhaftig nicht, trotz der vielen Toten in seinem Leben. Oder doch nur, „wenn ich den Speer als Schreibstift interpretiere“.

An einem Oktobertag des Jahres 2011 nimmt er um vier Uhr früh den Zug nach Dornbirn, um auf den Bocksberg zu steigen. Dort will er sein drittes Buch schreiben, das einzige, das er zu Ende bringt. Zehn Stunden hat er schätzungsweise dafür zur Verfügung. Gerold Ebner ist ein Mann der präzisen Planung – auch wenn man das angesichts seines chaotischen Lebens nicht unbedingt annimmt. Hans Platzgumer stattet ihn vorerst einmal mit einem gewissen trotzigen Witz aus – einem Witz, der den Roman als Ganzes auszeichnet: „Ich ärgerte mich kurz über die Arroganz des Alpenvereins, der mit den, auf jeder Erhöhung errichteten, gesegneten Passionskreuzen die Bergwelt verschandelt. Bevor ich zur Welt kam, waren die meisten Gipfelkreuze schon da. Ich kenne die Alpen nicht ohne sie. Auf der höchsten Stelle des heiligen Berges Fuji in Japan ist ein Getränkeautomat errichtet, und im Himalaya stößt der Bergsteiger allerorts auf verwitterte, tibetische Gebetsfahnen. Bei uns stehen eben diese Kreuze herum, normalerweise nehme ich sie nicht wahr.“

Betonstraße


Die Biografie, die Gerold unterm Gipfelkreuz schreibt, beginnt trübe. Er ist der Sohn einer Prostituierten, die nach seiner Geburt eine seltsame religiöse Wende macht und sich als Kranken- und Altenpflegerin förmlich aufopfert. Zu Ungunsten des Sohnes, der frühzeitig für sich selber sorgen muss, und zwar in der durchaus brutalen Welt der Südtiroler-Siedlung. Die Sprachlosigkeit zwischen Mutter und Sohn ist nicht neu an den von Platzgumer erzählten Familienkonstellationen. Dennoch gibt es zwischen dieser Mutter und ihrem Sohn eine zarte Bindung und eine stille Rücknahme kindlicher Forderungen. „Ich liebe meine Mutter, das halte ich fest, und auch sie liebt mich, aber der liebe Gott ist immer zwischen uns gestanden und hat uns davor bewahrt, einander näherzukommen.“ (S. 26)

Allein gelassen, lernt Gerold früh, sich zu prügeln, auf Baukränen Mutproben zu absolvieren und ein knallhartes Karate-Training durchzustehen. Mit ein paar Kumpels weiß er sich in einer Straßen-Gang verbunden, den „A-Südtirolers“: „Im Radio spielten sie häufig „I Only Wanna Be With You“ von einer Band, die, wie wir dachten B-Südtirolers, nicht Bay City Rollers hieß.“

Der Tod dringt früh in das Leben von Gerold Ebner. Etwa in Gestalt des Nachbarn, der vor seinem TV-Gerät stirbt, was erst nach Monaten auffällt. Neugierig und ohne bewussten Schrecken starrt der Junge auf die Leiche. Wenig später stürzt ein Bub der gegnerischen Straßengang von einer Brücke in den Tod. Schließlich greift ein Freund – Bauarbeiter wie Gerold – versehentlich in eine Hochspannungsleitung. Sind das innere Vorbereitungen für Gerolds ersten Mord? Er begeht ihn ohne Not, mit dem leisten Genervtsein des Fremden aus Albert Camus‘ gleichnamiger Erzählung. Es gibt nur diese erstaunte Feststellung: „Ich hatte etwas entdeckt, das verborgen gewesen war, eine neue Fähigkeit. Ich wusste nun, wozu ich in der Lage war.“

Heldendankstraße


Bald nach dieser Tat beginnt Gerold Ebner zu schreiben, unterstützt von seiner großen Liebe – einer Frau, die genauso in sich selber verkapselt erscheint wie er. Elena kann schreiben, es ist ihr Beruf, den sie ohne sichtliche Anstrengung bewältigt. Sie bringt das, was andere veröffentlichen wollen, in eine marktübliche Form. Eigentlich entwürdigend, meint Gerold, der an einem Roman arbeitet. „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, hätte Karl Valentin gesagt. Gerolds literarische Versuche zeugen von sehr viel Arbeit; Kunst wird daraus nicht, es bleibt beim Pfusch am Roman. Und Hans Platzgumer nutzt dieses literarische Scheitern für eine von Ironie durchtränkte Erkundung dessen, was Erzählen ausmacht.

Für den Beginn des zweiten Romans bekommt Gerold dann ein Stipendium, und zwar, weil Elena das Exposé in eine überzeugende Fassung bringt. Andererseits aber hat ihm auch eine Reise nach Südtirol die zündende Idee verschafft. Dort gibt es nämlich den Hof Platzgumm, von dem die Familie des Hansi Platzgummer herkommt. Und dieser Kindheitsfreund, wird zum Romanhelden. Seine großspurige Abreise in die USA, wo er eine Karriere als Rockstar zu machen gedenkt, und sein spurloses Verschwinden verhelfen zwar Gerold Ebner auch nicht zu einem geglückten Roman – aber Hans Platzgumer zu einem witzigen Pseudo-Selbstportrait.

Hitotsu


Sämtliche Kapitel des Romans sind mit „Hitotsu“ überschrieben, jenem gebrüllten Wort, mit dem jedes Karate-Training beginnt. „Alles war gleichbedeutend, nichts wichtiger, nichts weniger wichtig als anderes.“

Dieser Devise beugt sich vor allem ein weiterer Jugendfreund Gerolds, der Senoner Guido, Bauarbeiter wie Gerold und von klein auf sehr begabt für Karate. Dennoch verliert er das Interesse an dieser Sportart, stürzt sich in andere körperliche Ertüchtigungen, verbissen, stumm, asketisch – bis zu seinem schrecklichen Unfall. Auf der Baustelle trinkt er aus einer Flasche Römerquelle, in die jemand eine hochkonzentrierte Reinigungsflüssigkeit gefüllt hatte. Monatelang ringt der Schwerverletzte ums Weiterleben. Dann verliert er den Mut, und Gerold schreitet wieder einmal zur Tat. „Guidos Bitte schockiert, verwundert mich nicht. In gewisser Weise bin ich erleichtert, denn endlich kann ich etwas tun, endlich kann ich helfen, auch wenn es Sterbehilfe ist.“

Guidos Tod ist nicht der letzte im jungen Leben von Gerold Ebner, aber er ist einer der Gründe für die finale Bergtour. Mit dem kühlen Interesse eines Insektenforschers blickt Hans Platzgumer auf die Traumata seines Helden. Eine Innensicht versagt er sich, eine Beschreibung von Gerold Ebners Verhalten weitgehend auch. Der Möchtegern-Autor wirkt kontrolliert noch in den absurdesten Wendungen seiner Geschichte. Er organisiert die Morde, verwischt die Spuren, wirft allenfalls noch einen Blick in den Fernseher: „Ein Fußballmatch der max.Bundesliga wird gezeigt. SC Schwarz-Weiß Bregenz führt 1:0. Einen Angriff der gegnerischen Mannschaft verfolge ich. Er führt zu nichts. Ich denke, das würde Guido freuen.“

 

Hans Platzgumer, Am Rand, 208 Seiten, € 20,50, ISBN 978-3-552-05769-2, Verlag Zsolnay 2016