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Annette Raschner · 11. Mär 2021 ·

„Ich habe in Felder nie einen Säulenheiligen gesehen“

Vor über zehn Jahren ist unter dem Titel „Seanno“ ein Buch mit Gedichten in Bregenzerwälder Mundart erschienen. Der Dichter, Norbert Mayer, stammt aus Egg und ist vor drei Monaten mit dem Ehrenpreis des Landes für Kunst ausgezeichnet worden. Mayers eigene literarische Produktion steht seit Monaten still, weil ihn Dialektgedichte eines Anderen intensiv beschäftigen: Jene von Franz Michael Felder. Im Auftrag des Franz-Michael-Felder-Archivs versucht sich Norbert Mayer an einer Übertragung der Texte ins Hochdeutsche. Eine spannende Aufgabe, die sich allerdings als deutlich herausfordernder als ursprünglich angenommen herausgestellt hat.

Ich sitze in Norbert Mayers Küche in Egg Großdorf und lausche dem Klang von über 150 Jahre alten Kreuzreimen in alter Wälder Mundart, die aus der Feder von Franz Michael Felder stammen. Bei einigen Ausdrücken muss ich passen, Norbert beruhigt mich: „Wenn man den Dialekt nicht beherrscht, hat man kaum eine Chance, einige Verse zu verstehen.“

Der Gegensatz zu „denen da oben“

Der Umfang ist ja überschaubar. Lediglich zwölf Dialektgedichte sind Norbert Mayer von Felder-Archiv-Leiter Jürgen Thaler gegeben worden, einige sind allerdings drei Seiten lang. Rund die Hälfte sind Anlassgedichte. Eine Serie, die Felder zwischen 1862 und 1864 schrieb, ist Dr. Georg Walser in Au gewidmet. Er war ein enger Freund des Schoppernauer Dichters. „Die beiden befanden sich offenbar auf einer Wellenlänge. Dr. Georg Walser war ein kritischer Geist, der mit vielem Althergebrachten im Dorf aufgeräumt hat“, so Norbert Mayer.
In seinen Gedichten reflektiert Felder über sich und über Geschehnisse im Dorf. Er schreibt über die Jäger, über eine verliebte Wälderin, über das, was ihm wichtig ist. Er unterstreicht den Gegensatz zwischen ihm und seinen Freunden auf der einen und denen „da oben“ – die mit dem Geld und der Macht – auf der anderen Seite. So manche Kritik schimmert zwischen den Zeilen durch. „In den Gedichten bekommt man den Felder ganz komprimiert. Und man kann viele Parallelen zu heute ziehen!“

Abschied vom Reimkorsett

Norbert Mayer, dem die Texte Franz Michael Felders seit seiner Gymnasialzeit vertraut sind und der etwa vor zwei Jahrzehnten mit der damaligen Leiterin des Felder-Archivs, Ulrike Längle, aus Liebesbriefen Felders in dessen Vorsäßhütte in Hopfreben gelesen hat, ist seit dem Spätsommer letzten Jahres dabei, sich den in vielerlei Hinsicht herausfordernden Dialektgedichten anzunähern. Es gebe schließlich keine Regeln, wie man im Dialekt zu schreiben hat, sagt Mayer, der weiß, wovon er spricht. Über einzelne Begriffe, die sich ihm gar nicht erschlossen hätten, habe er mit Menschen im hintersten Bregenzerwald diskutiert. Kein Thema war für ihn die Reimform: „Die wäre ein viel zu enges Korsett gewesen.“

Ein Getriebener

Beim genauen Studium der Texte hat Norbert Mayer den Eindruck gewonnen, dass es bei Felder beim Schreiben der Gedichte manchmal schnell gehen musste: „Wenn ich die Serie für Georg Walser hernehme. Da stelle ich mir vor, dass Felder während der Stallarbeit schon alles im Kopf gehabt und den Text sehr flott notiert hat, um ihn am Abend in Au gleich vortragen zu können. Manchmal fließt es sehr schön, dann stolpert man wieder über etwas und denkt sich: Ah okay, das geht auch einem Meister so.“
Er habe sich bei der Arbeit oft gefragt, wo Franz Michael Felder seine Zeit hergenommen habe. „Familie, Genossenschaft, Stallarbeit, Büchereiwesen. Unglaublich, was ihn alles beschäftigt hat! Und dann noch dieses große, in jeder Hinsicht unglaubliche Werk. Ich vermute, dass er wenig bis gar nicht geschlafen hat. Auf dem Totenbett sieht er aus wie ein Greis, nicht wie knapp 30. Was war seine Motivation? Alt zu werden jedenfalls nicht. Vielleicht aus der Zeit herauszuholen, was geht. Ich bin mir sicher, dass er ein Getriebener war.“

Die eigene Handschrift

Der mittlerweile pensionierte Volksschullehrer Norbert Mayer ist ein Dichter, kein Übersetzer oder Sprachwissenschaftler. Insofern stelle das Projekt komplettes Neuland für ihn dar. – „Und ein schönes Experiment, eine spannende Zeitreise.“
Umso akribischer ist er bei seinen Übertragungen vorgegangen, die eigene Handschrift ist dennoch erkennbar. Wenn Norbert Mayer kein passendes Synonym für einen Dialektausdruck finden konnte, hat er Ausdrücke von heute wie „sorry“ oder „Wirrwarr“ verwendet. Dennoch konstatiert er: „Es ist und bleibt Felder. Ich muss nicht überall meinen Senf dazugeben.“

Ehrliches Gesamtbild

Qualitativ ortet Mayer eine große Bandbreite, im Gesamten sei die Prosa sicher höher anzusiedeln. „Es gibt wunderbare Schlüsselstellen, stimmige Pointen, schöne, poetische Passagen. Dann wieder breitet er manches sehr lange aus. Aber das war halt die damalige Zeit. Und es ergibt sich ein ehrliches Gesamtbild. Man erkennt eine weitere Facette. Ich habe Felder nie als Säulenheiligen gesehen.“
Für den Herbst planen Felder-Verein und -Archiv, die vor Kurzem mit dem Roman „Sonderlinge“ die Neupublikation des erzählerischen Werks von Felder abgeschlossen haben, die Herausgabe eines Bands mit den Originalgedichten in Mundart sowie den Übertragungen Mayers in Hochsprache. Bis dahin gilt es für ihn, an die Feinarbeit zu gehen, sich selbst nicht zu übernehmen und immer wieder Pausen einzulegen. „Wenn ich stundenlang an einer Zeile sitze, muss ich raus. Beim Spazierengehen kehre ich anders zurück, als ich losgegangen bin. Dann kann die Arbeit weitergehen.“

Annette Raschner ist Redakteurin des ORF-Landesstudios Vorarlberg