„Haltung in der Politik zwischen Anspruch und Wirklichkeit – ein Reality-Check der österreichischen Demokratie“
Reinhold Mitterlehner (67), österr. Minister von 2008 – 2017 und anschließend ÖVP-Vizekanzler von 2014 – 2017, ehe er Sebastian Kurz weichen musste, war am 20. April 23 in St. Arbogast zu Gast.
Wenn in der Vorstellung Mitterlehners Zitat aus einem Gedicht von Hermann Hesse aufgegriffen wurde, nämlich „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, hätte wohl die meisten Zuhörer das Ende seiner politischen Karriere mehr interessiert. Von dem war dann nicht viel die Rede, vielmehr hörte es sich – was auch aus den Fragen der Zuhörer begreiflich wurde, und Mitterlehner sich korrigierte, wenn das so rüberkam – nach einem Rundumschlag gegen die Unfähigkeit der demokratischen Politik mit Krisen umzugehen an. Die seien nämlich samt und sonders nicht gelöst worden, viel eher verdrängt oder durch immer neue Krisen aus dem Fokus geraten. So bezog sich sein Reality-Check auf die Krisen ab 2008, als er in die Spitzenpolitik wechselte: Von der Banken- und Finanzkrise angefangen, über die Eurokrise mit Griechenland, der Migrationskrise 2015 über die Pandemie bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine und zur gegenwärtigen Inflationskrise. Und über allem schwebe die Klimakrise, die ein Gefühl des Unwohlseins verursache. Ob die Krisen gelöst sind? Nein, nicht gelöst und nichts gelernt, ist seine Meinung.
Begonnen hatte er allerdings mit der Feststellung, dass es in Österreich Anzeichen gebe, dass wir uns in Richtung einer Autokratie bewegen. Die Institutionen würden ausgehöhlt werden und funktionierten nicht mehr. Schuld sei das Parteiensystem und Politiker würden zum Teil des Systems und primäres Ziel sei die Wiederwahl. Auf die Meinung des Volkes zu hören, sei problematisch, weil der Bürger relativ schlecht informiert, ignorant und egoistisch sei.In diesem Sinne kam er auch auf die Medien zu sprechen und warf sowohl Hans Dichand sen. ("Krone") und den Fellner-Brüdern ("Österreich") vor, direkt interveniert zu haben und in zweitem Falle sogar mit Inseraten entsprechende Berichterstattung angeboten zu haben. Insofern mache der Boulevard-Journalismus Politik. Das jüngst beschlossene Medienpaket begrüßte er aber ausdrücklich, auch wenn es schon von der Expertenregierung unter Kanzlerin Bierlein – die nicht wieder gewählt werden musste – in den Nationalrat gebracht werden hätte können und die Parteien hätten wohl zu dieser Zeit kaum ablehnen können. Denn unpopuläre Maßnahmen zu beschließen, sei immer schwierig. Zudem verlange es nach Narrativen, was aus Politikern Selbstdarsteller produziere. So bewerte die Öffentlichkeit auch persönliche Fehler viel massiver als strategische, was darauf zurück zu führen sei, dass die Öffentlichkeit auf Neid und Missgunst fixiert sei, und nicht auf Inhalt. Der Bürger sei zu Egoismus erzogen worden und der Nationalismus sei Egoismus im Großen.
Stattdessen sollte die Gesellschaft als solche nachdenken und in andere hineindenken. Es brauche mehr Respekt gegenüber Andersdenkenden, auch gegenüber der FPÖ und Kickl, und mehr Loyalität gegenüber Partnern – auch in der Koalition, was er bei Ministerin Gewessler vermisse und letztlich brauche es auch Selbstbeherrschung, um nicht alles nach außen „aufzublasen“ und in die Medien zu tragen. Letztlich sieht er keine Politikverdrossenheit, sondern eine Politikerverdrossenheit „Politik sei immer dreckig“, sagte Mitterlehner so ganz nebenbei. Er selbst habe sich immer wieder auf Kompromisse einlassen müssen, aber „verbogen“ habe er sich nie und sein Abgang sei letztlich von sehr vielen Menschen mit Respekt quittiert worden. Alles in allem war ein sich jugendlich gebender Alt-Politiker zu erleben, der ohne Verwendung des Redemanuskriptes locker aus seinem politischen Leben berichtete, ohne aber bei einzelnen Kritikpunkten in die Tiefe zu gehen oder das Thema systematisch auszuleuchten. Insofern war das Thema verfehlt worden, aber die Sichtweise des Bürgers und der Medien gaben doch Aufschluss über das Denken eines ehemaligen Spitzenpolitikers, der fast sein ganzes Leben im System zubrachte, um nach seinem „Fall“ diese unvollständige Analyse zum Besten zu geben.