Hittisauer Landgespräche 2022: „Gemeinde.Leben – was ein Dorf zusammenhält“
Das Thema der diesjährigen Landgespräche war in der Reihe der bisherigen ein überaus anspruchsvolles. Nach „Wohnformen der Zukunft“ 2018, „Bildung“ 2019, „Mobilität“ 2020 und „Gesundes Altern“ 2021 ging es diesmal mit einer Reihe hochkarätiger Vorträge, Präsentationen fachwissenschaftlicher Daten, u. a. von Student:innen der FH Vorarlberg, und einer Podiumsdiskussion um Fragen des dörflichen Zusammenlebens, die „Dorfgemeinschaft“. Es ging um das soziale Gewebe und wie dieses gefördert bzw. eben nicht gefördert wird.
Die Referent:innen Geser-Engleitner, Sozialwissenschaftlerin mit Fokus Familie und Generationen, FH Vorarlberg, Kriemhild Büchel-Kapeller vom Büro für freiwilliges Engagement und Beteiligung der Vorarlberger Landesregierung, Thomas Milic, Demokratieforscher am Liechtenstein-Institut sowie Reinhard Haller, Psychotherapeut und Buchautor trugen nebst Moderator Bertram Meusburger vom Büro für Zukunftsfragen maßgeblich zum Gelingen der Landgespräche bei. Für eine auflockernde Stimmung und in gewisser Weise Relativierung und auch Distanzierung der Inhalte trug die glänzend disponierte kabarettistische Einstimmung von Gabi Fleisch bei. Den für Konzeption und Durchführung verantwortlichen Organisatoren Markus Faißt, Hermann Hagspiel und Johann Steurer ist die finanzielle und inhaltliche Unabhängigkeit sehr wichtig. Diese sei nur durch den freiwilligen Einsatz vieler Beteiligter sowie dank der Sponsoren aus der Wirtschaft möglich, die Finanzmittel für die Abdeckung der anfallenden Kosten für Referenten, Technik, Bewirtung, Kommunikation und Publikation der Ergebnisse zur Verfügung stellen.
Die Relevanz des Themas
Die oben genannten Veranstalter stellen dazu einleitend fest: „Das Dorf von früher gibt es nicht mehr. Auch das Landleben ist modern geworden. Gerade die Gemeinden des Bregenzerwalds beweisen, dass mit Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Verkehr, Sozialdienste und Kultur Lebensqualität auf dem Land möglich ist, wie man sie früher nur in der Stadt kannte – wobei die Nähe zur Natur und die Überschaubarkeit erhalten bleiben. Mit zunehmendem Wohlstand steigen auch die Ansprüche und selbstverständlichen Erwartungen an öffentliche Einrichtungen und Kommunalpolitik. Gleichzeitig werden Vereinzelung und steigende Anonymität im Dorf beklagt. Die Verantwortlichen in den Gemeinden berichten über abnehmende Bereitschaft der Mitbürger:innen, sich in der Nachbarschaft, in Vereinen oder der Gemeindevertretung zu engagieren.“ Trotz enormer Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Kultur- und Freizeiteinrichtungen erodieren die Nachbarschaften, kommen den Vereinen Mitglieder abhanden, engagieren sich nur wenige in der Gemeindepolitik. Regelmäßige Begegnungen beim Kirchgang oder bei Brauchtumsanlässen wurden abgelöst durch einzelne Massenevents und ständige Präsenz in den sozialen Medien. Die Landgespräche gingen in diesem kommunikativ sehr geschickt angelegten Programmverlauf einer Reihe zentraler Fragen nach, u. a. was heute das Besondere des Dorfs noch ausmacht, was Halt im Inneren gibt und worin die zukünftige Rolle des Dorfs bestehen könnte. Im soziologischen Spektrum des Themas stand die Frage, wie der Ausgleich der Interessen und Ansprüche von angestammten und zugezogenen Gemeindebürger:innen gelingt. Nach den Vorträgen kamen im zweiten Teil der Veranstaltung Initiator:innen innovativer Lösungen zur Stärkung des Zusammenhalts im Dorf zu Wort und Absolvent:innen der FH Vorarlberg präsentierten die Ergebnisse einer Umfrage unter jungen ehemaligen Dorfbewohner:innen
Erika Geser-Engleitner „Das Dorf gestern und heute – ein sozialwissenschaftlicher Aufriss“
Ihr Vortrag nähert sich über eine Begriffsdefinition an die Typen und Strukturen des Dorfes an. Historisch bedeutend ist der Typ der ländlichen Gruppensiedlung, bei dem die Wohn- und Arbeitsstätten räumlich konzentriert waren und einen mehr oder weniger geschlossenen Kern inmitten der landwirtschaftlich genutzten Flur bildeten. Kennzeichnend war die gemeinschaftssichernde Infrastruktur, wie Kirche, Schule, Post, Gasthof, Laden und Bürgermeisteramt. Strukturell und siedlungsspezifisch unterscheiden sich Dörfer nach Siedlungsformen, u. a. in Straßen-, Zeilen-, Haufendorf. Statistik Austria liefert im historischen Längsschnitt Daten zur urban-ruralen Typologie, in denen es zu funktionalen Verflechtungen kommt, wobei der Fremdenverkehr immer eine veränderungsmotivationale Rolle gespielt hat. Soziologisch kennzeichnet das Dorf die Dorfgemeinschaft, in der die Mitglieder durch ein starkes „Wir-Gefühl“ oftmals über Generationen eng miteinander verbunden waren und es eine deutliche Trennungslinie zwischen „uns“ und „den Anderen“ gab.
Die Barfuß-Kinder auf der Straße
... ist jenes mir deutlich in Erinnerung bleibende Bild, das Erika Geser-Engleitner zeigte. Abseits aller romantisierenden Effekte deutet es auf eine Vielzahl von zu Vergleichen animierenden Überlegungen hin. Es stammt aus dem Jahr 1920, aufgenommen in Egg, zugänglich in der Sammlung des Bregenzerwald Archivs, II-005 Postkartensammlung Egg 146. In den Diskursen über das Dorf zwischen ca. 1920 und 1950 zeichnete sich ein historischer Wandel ab, als das Dorfleben als eine vom Untergang bedrohte Form des menschlichen Zusammenlebens wahrgenommen wurde. Das gemeinschaftliche (Dorf-)Leben basierte auf Basis der Sitte, auf den Gemeinschaften wie Verwandtschaft, des Ortes / Nachbarschaft und des Geistes / Freundschaft (vgl. Ernst Langthaler, 2014). Mit der Entwicklung der Dörfer wird die Dorfgemeinschaft als modernisierungsbedürftiges Relikt der Vergangenheit angesehen, ein Konstrukt, das in die Gegenwart geholt werden müsse. Als Hindernis wissenschaftlich attestiert wurde ein rückständiges Bewusstsein – „cultural lag“ der ländlichen Akteure, das an traditionellen Orientierungen festzuhalten schien (vgl. Pongratz, 1996). In der Folge wird das Dorf ein von Machtbeziehungen durchdrungenes Kräftefeld, in dem verschiedene Akteure gemäß diverser Denk- und Handlungsmuster um ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalien (vgl. Bourdieu, 1993) ringen.
Vom Gestern zum Heute – ein tiefgreifender struktureller Wandel
Heute überwiegt die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung, aufgrund der vielfältigen Einkommensmöglichkeiten bleibt die Landwirtschaft als Nebenerwerb. Hinzu kommt die gesteigerte Mobilität, die einen zunehmend hohen gesellschaftlichen und individuellen Wert darstellt. Es wird weniger Zeit in den Wohngemeinden verbracht, was das soziale Miteinander in den Dörfern wesentlich verändert. Weiters kommt es zu einer kontinuierlichen Angleichung der Lebensformen, Werthaltungen, Freizeit und des Konsumverhaltens an die „städtischen“ Regionen. Wie die Vortragende ausführt, hat das soziale Netz aus Hierarchie, Religion, Nachbarschaft, Nähe und Kontrolle starke Löcher bekommen: Wachstum der Dorfsiedlungen aufgrund von Pendelwanderung; Entstehung von Ortsteilen mit reinem Wohncharakter; aus dörflichen Strukturen wurden vielerorts Gemeinden mit „städtischem Charakter“ (urbane Lebensweise). Die flexible Wahl des Wohn- und Arbeitsortes beeinflusst die Bindung an Orte und die Verbundenheit mit Orten.
Das Dorf heute – gibt es das Dorf noch?
Wesentliche Kennzeichen dafür: Früher selbstverständliche Begegnungsorte sind für die Mehrheit Vergangenheit. Soziale Kontakte finden mehr und mehr über virtuelle Plattformen statt; eingekauft wird immer häufiger am Online-Markt; Kreisel, Straßenkreuzungen und Parkplätze sind die meist frequentierten Knotenpunkte; das Leben im Dorf ist weniger homogen, diverser und widersprüchlicher geworden. Dörfer als Zukunftsorte können funktional sehr vielschichtig auftreten, als smarte Dörfer, als Lieferant für erneuerbare Energie, als Health-Village (Demenzdorf), als Bio-Oase, als Landhausidylle für Städter und als Creative Hubs u. a. m.. Heute repräsentiert das Dorf im soziologischen Sinne auch die Gegenposition zur Komplexität gegenwärtiger Lebenswelten. Schlussfolgernd: ein paar To-do-Stichworte: soziale Dorfentwicklung als aktive Dorfgemeinschaften fördern, in den Dörfern Netzwerke mit ihren Projekten unterstützen, Zugezogene einbinden, Dorfladen, Kulturinitiativen sowie personelle Ressourcen in der Gemeindeverwaltung fördern. Die genannten Punkte können maßgeblich zur Sicherung der Lebensqualität (Natur, soziale Kontakte, Infrastruktur u. a.) in Dörfern beitragen.
Thomas Milic und Reinhard Haller
Thomas Milic sprach in seinem Vortrag über „politische Entscheidfindungsprozesse (sic!) als Wechselspiel von Verstand und Gefühl“, wie sich Individuen eine Meinung bilden. Seiner Grundhypothese entlang betonte er, dass die politische Meinungsbildung mit einem Fokus auf die Schweiz ähnlich wie im normalen Alltagsleben erfolge, dass die kognitive Architektur immer dieselbe sei, auch dass sich die Rahmenbedingungen ändern, wenn es um das Lokale gehe.
Reinhard Haller fokussierte auf sozialpsychologische Aspekte eines produktiven Miteinanders im Dorf und hob dabei die Vorteile des Lebens in kleineren Gemeinschaften hervor. Er betonte die Gemeinschaftsbildung, das Face-to-Face der Kommunikation, die Möglichkeiten der Identifikation, was viel mit Geschichte und Zukunft zu tun habe, ganz im Sinne von Viktor Frankl, mit dem Reinhard Haller auch auf das Sicherheitsgefühl verwies, indem er der Globalisierung die Nestwärme gegenüberstellte. Der zunehmende Narzissmus (Zitat Haller: „ich – ich/er – am allerichsten“) führe zu Entsolidarisierung, die Überindividualisierung und Selbstoptimierung seien zu zentralen Elementen geworden, mitgesteuert und verantwortet durch die Digitalisierung. Sozialpsychologisch vorrangig sei die Frage nach dem Umgang mit den Alten. Der Wertschätzungskrise und Blockade, die damit zu tun haben, könne auf dem Land, wo die Alten eine bessere Lebensqualität als in anonymen Strukturen haben, besser begegnet werden. Schließlich kommt Prof. Haller auf die Wertschätzungskultur zu sprechen und skizziert den Trend, dass sich eine Unkultur der Beschämung durchgesetzt habe. Die Scham sei der wichtigste menschliche Schutzfaktor. Der Mensch sei ein liebes- und lobesbedürftiges Wesen und verweist auf Stephen Hawkins, der zur Rettung der Empathie angetreten sei, für Prof. Haller die „emotionale Muttermilch“, weil sie im Kampf gegen die Vereinsamung bedeutend sei.
Kriemhild Büchel-Kapeller „Zusammen Halt geben – vom Ich zum Wir“
Sie spricht über die pragmatische Seite des Miteinanders und verweist auf eine Vielzahl erfolgreicher Projekte, die sie im Laufe der letzten Jahre mit dem Büro für freiwilliges Engagement und Beteiligung begleiten konnte – Beteiligungsprojekte in Vorarlberg unter dem Gemeinschaftstitel „zämma leaba“. Menschen zu bewegen statt mehr Papier zu produzieren, ist das zentral gestellte Motto. Sie betont dabei, dass eine reiche Zukunft Miteinander und Beteiligung in der Gegenwart brauche. Mit Verweis auf den Querdenker Gerald Hüther („Wir brauchen Gemeinschaften, deren Mitglieder einander einladen, ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen“) zitiert sie aus seinem Buch „Kommunale Intelligenz“. „Was Kommunen brauchen, um zukunftsfähig zu sein, wäre eine andere […] Beziehungskultur.“ Eigentlich öffnet sie in einem furios engagiert gehaltenen Plädoyer eine Schatzkiste von Ideen und Impulsen – „Ohne Begegnung auf Augenhöhe funktioniert es nicht“ – sozusagen das Einmaleins des Miteinanders. Mit „Wo ich mein Herz habe, dort habe ich meine Zeit und Energie“, appelliert sie dafür, Talente und Fähigkeiten sichtbar zu machen. Sie beruft sich weiters ebenfalls auf den Physiker Stephen Hawking, der vor einer Gefahr warnt, die viel größer sei als Umweltkatastrophen, „der größte Fehler der Menschheit“: Fehlende Empathie führt zur Katastrophe (Focus Wissenschaft 15.2.2015)
Zu diesem „Wir auf dem Land“ haben Student:innen der Fachhochschule Vorarlberg, Studiengang Soziale Arbeit, in Begleitung ihres Dozenten Martin Geser die relevanten soziologischen Grundlagen zum Thema erforscht und die Umfrage-Ergebnisse in anschaulicher Form entlang einiger übersichtlich gestalteter Folien präsentiert. Der Auftritt der Gruppe der Studentinnen hat inhaltlich und vor allem auch wissenschaftsanalytisch sehr entsprochen. Eine Studentin, Lisa Nardin, die wie ihre Kolleginnen ihr Studium erfolgreich beendet hat, war neben dem Hittisauer Vizebürgermeister Anton Gerbis sowie den beiden Vizebürgermeisterinnen aus Wolfurt, Angelika Moosbrugger, und Sibratsgfäll, Marion Maurer, auf dem Schlusspodium. Sie alle haben auf überzeugende Weise die Schlüsselaspekte hervorgehoben. Es geht um soziale Aspekte, um das intergenerationelle Beziehungssystem, um Beziehungen zu Freunden und Freundinnen, um Wertschätzung, einen respektvollen Umgang miteinander und um Traditionen. Die Grundlagen wurden gut inszeniert vorgestellt. Man wird sehen, was die Gemeinde-Politiker:innen daraus machen werden.
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