Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Peter Niedermair · 08. Mai 2019 · Gesellschaft

Arbogast Spirit re-visited - Tage der Utopie, 6./7. Mai

Arbogast bei Götzis ist ein zentraler Ort auf der Landkarte im Denkraum Bodensee. Seit 2003 finden hier im Jugend- und Bildungshaus biennal die Tage der Utopie statt. Und wenn man sich die Orte der ReferentInnen, Vortragenden, WorkshopleiterInnen und MusikerInnen der letzten 16 Jahre etwas näher anschaut, sieht man auf einen Blick, welche Knotenpunkte internationaler Vernetzung mittlerweile aufgespannt wurden. Die Tage der Utopie sind ein intellektuelles Feuerwerk, ein Ort der Diskurse, ein Umschlagplatz für Ideen und praktische Anregungen. Programm und Künstlerische Leitung verantworten Hans-Joachim Gögl und Josef Kittinger, das organisatorische Logistikzentrum liegt bewährt in den Händen von Julia Wohlgenannt, die mit einem starken Back-up-Team arbeitet.

Haltung statt Ideologie, Prozesse statt Rezepte - „The Dark Horse“

Vorwort der Veranstaltungsbroschüre: „Aus Kritik wird Vision“ - „The Dark Horse“ als Bild war schon auf die Leinwand projiziert, als Daniel Mutschlechner, Geschäftsführer des innovativen Bildungszentrums, die Gäste des ersten Abends begrüßt, auf die Kernidee dieser Tage der Utopie als Entwürfe für eine gute Zukunft verweist und das Tiefblau des EU-Plakats im Entwurf von Günther Kassegger hervorhebt, das anhand symbolischer Kürzel, die über Europa hinausweisen, ein noch weiteres, globaleres Netzwerk umspannt. Hans-Joachim Gögl verweist auf die Kontinuitäten seit 2003, einmal der Fokus auf die Ressourcen und nicht die Defizite und die Aufmerksamkeit auf das lenkend, was gelingt. Das dritte große Thema ist die gelebte Praxis, ein Zukunftsbild mit Spielbein in der Wirklichkeit.
Die Musik jeweils zu Beginn des Abends vor dem Vortrag ist eine Komposition, gefolgt von einer Improvisation nach Vortrag und Diskussion, ist funktional kein behübschendes Ornament, sondern integraler Bestandteil einer strukturellen und inhaltlichen Gesamtkomposition. Dieses Jahr spielen der soeben aus Indien zurückgekehrte David Helbock am Piano und Lorenz Raab an der Trompete. Eine leichte aber dennoch akzentreiche Veränderung ist bei den diesjährigen Tagen der Utopie, dass ausgewählte Begleiter der letzten Jahre die einzelnen Programmteile moderieren. Am Eröffnungsabend ist der Moderator der „Vlow“ Clemens Schedler an der Reihe. Auf C. Schedlers Homepage und passend zum Thema des ersten Abends steht der Satz: „Fehler von heute sind das Wissen von morgen.“ Eine Idee transformiert auf die glokalisierte Welt Vorarlbergs.

„Kloster für Innovation. Dark Horse“ mit Christian Beinke und Ludwig Kannicht 

Was ist ein „Dark Horse“ – und was war gestern Abend los? Musiksozialisierte würden sagen, das sei der Titel eines Songs von George Harrison aus dem Jahr 1974 oder ein Musikalbum von Nickelback aus 2008, für die up-dated people wäre es ein Song von Katy Perry, uraufgeführt 2013. Dann ist Dark Horse der Firmenname eines innovativen US-amerikanischen Comicverlags mit Firmensitz in Milwaukee, Oregon, der 1986 von Mike Richardson gegründet wurde und auch Übersetzungen japanischer Mangas veröffentlicht. Dark Horse ist in den USA auch die Bezeichnung für einen Politiker.
Das „Dark Horse“ an den Tagen der Utopie ist eine vor zehn Jahren gegründete Agentur aus Berlin, „die Firmen bei der Neuentwicklung kundenorientierter Produkte, bei Serviceleistungen und Strategieentwicklung“ Broschüre berät (www.thedarkhorse.de).
Präsentiert wird The Dark Horse von zwei jugendlich wirkenden Mitgliedern der Agentur, Christian Beinke und Ludwig Kannicht. Die beiden sind Mitbegründer von Dark Horse und Mitautoren von „Thank God it’s Monday!“ Ihr Vortrag ist vital, die beiden sprechen dual aufeinander bezogen und inhaltlich verschränkt, sie erzählen von ihren Erfahrungen, von den Fehlern und Irrtümern und auch von den Erfolgen des Teams, das mittlerweile auf ca. 30 Leute angewachsen ist. Selten habe ich Referenten so überzeugend und argumentativ solide vortragen gehört, es ist als holten sie eine Perle nach der anderen aus der Schatzkiste ihres Tuns. Hinter dem, was so locker und gelassen daherkommt – „Nichts muss bleiben, wie es ist!“ – werden Haltungen und Positionen deutlich, auf die man nicht in einer Woche Methodentraining oder bei einem Klassenausflug in die Bretagne kommt. Aus deren Kundenliste wird klar, wie deren Welt taktet, von Porsche bis It-Girl, von Fußball-Guru bis Siemens. Bei ihrem Vortrag wohnen wir Zuhörende praktisch einer „Operation am offenen Herzen“ bei in der perspektivisch ständig sich verändernden Agentur. Sich selbst dermaßen ein critical friend zu sein, bedeutet, sich und sein Tun als in eigener Veränderung befindlich zu erleben und zu evaluieren.  

Trompete jagt Klavier – die Arbogaster Bäume in geröteter Abendsonne

Nach der Musik-Ouvertüre mit Klavier und Trompete, einem komponierten Stück, leise bis schrill, jaulend bis fabulierend, in dem sich die beiden Musiker parallel in die Abendsonne in Arbogast jagen und einen Bezug zwischen dem Außen und dem Innen schaffen; die Trompete von Lorenz Raab hetzt das Klavier des David Helbock, bläst es locker und easy an die Wand, auf der das Dark Horse schon aufgeregt ins Publikum schaut.
Danach geht’s los. Die beiden Referenten verlangsamen zunächst einmal das Tempo, und tun so, als wären neue Zeiten und neue Arbeitsweisen im Funktionswandel das Selbstverständlichste auf der Welt. Wie viele Jahre brauchte es, bis einzelne Produkte 50 Millionen User erreicht hatten? Alles wird immer langsamer und immer digitaler. Die Produkte sind heute zu 66% aus dem digitalen Umfeld. PokémonGo das letzte. Die beiden Referenten, die miteinander sehr achtsam kommunizieren, sind perfekt aufeinander eingespielt, als Duett, als Duo, als kongeniale Partner. Das Mission-Statement ihres Tuns auf einen Punkt gebracht lautet: Wir wollen Unternehmen innovativer machen. „Design thinking“ ist das magic word, nach dem Frank Zappa gefragt hätte, wie am Beginn seiner Konzerte.   

Kollaboration und Partizipation

Sie berichten über Prinzipien von Organisationsentwicklung & Change, über die Konzeption ihrer inhaltlichen Arbeit, darüber, wie sie Bücher schreiben und in diesen über ihre gemeinsamen Glaubenssätze reflektieren. „Gleichheit. Wir sind alle gleich“ heißt, alle haben die gleichen Rechte, alle kreieren und co-kreieren diese neue Form des Unternehmertums, das auf Kollaboration und Partizipation hin ausgelegt ist. Sie praktizieren Gemeinschaft nach dem Motto „Freundschaft ist wichtiger als Geld“ und „Ohne Gefährten ist kein Glück erquicklich“. Ziemlich bald am Anfang ihres kreativen Tuns kam die Erkenntnis, die bekannten Strukturen/die Organisation taugen nicht, was sie animierte, bis heute, Management als solches einem Re-Design auszusetzen und sich selbst zum Entwurf zu machen. Die Kaskade geht dann ungefähr so: Wir machen einen Prototyp, testen diesen und machen eine neue Version. Entwicklung entsteht durch Widerspruch, so wie das Ich und die Gemeinschaft als Widerspruch erfahren werden. Doch man respektiert, dass das individuelle Bedürfnis Freiheit ist, während die Organisation das Bedürfnis nach Stabilität hat.
Man begibt sich also auf die Suche, wer bzw. welche Organisation das schon gelöst hat. Die Antwort ist nicht weit. Sie kommt diesmal nicht als Hilfe aus Bregenz, sondern aus der Kloster-Analogie, die man als Metapher sieht. Im Kloster gibt es Personen und Pilger. Raum & Zeit, wie viel, wann, wo? Arbeiten wir zusammen, entlang weiterer Bedürfnis-Paradigmen, wie Partizipation des Individuums versus Geschwindigkeit der Organisation. Ein solches Navigieren verlangt gute Entscheidungsgrundlagen und davon entkoppelte Macht, weil sich nur Lösungen aber nicht Probleme umsetzen lassen. Segelt man mit dem Prinzip Implementierung durch Identifikation, ist die Blockade nicht nötig und die Zahl der Widersprüche wird nach unten gefahren.

Thematische Selbstermächtigung

Dieser Fokus beschäftigte besonders auch während des Workshops am heutigen Dienstagvormittag. Es geht um die Frage des Entrepreneurship und wie Unternehmen aus dem Umgang mit Konflikten gelernt haben, indem man mit den anderen im selben Boot in Verhandlung geht, weil wir, der Entscheidungssicherheit wegen, immer wissen müssen und wollen, was die anderen machen. Über das Unternehmen muss transparent geredet und verhandelt werden, sonst geht da nichts. D. h. auch, wir müssen Vertrauensinstrumente entwickeln, mehr kommunizieren und die interne Lernkultur fördern und MitarbeiterInnen befähigen, gemeinsam zu spielen, indem man am „gemeinsamen Purpose“ arbeitet. Was zählt, ist dann schnell deutlich: Man geht gemeinsam und regelmäßig auf „Klassenfahrten“, nicht die Instrumente, die Tools, sondern das Vertrauen ist wichtig. Für die Organisation da sein, aber sich nicht aufopfern, sich & das Unternehmen voranbringen, aber niemanden abhängen.

Management durch Kultur und Kommunikation

Während Management durch Struktur einem tayloristischen Verständnis entspringt, geht es bei Management durch Kultur darum, ein gemeinsames Set an Werten zu vereinbaren. Das kann zunächst ein Tasten im Nebel sein, bis man das sog. Thinking Mind Set in die Welt tragen kann, doch es wird gelingen, wenn die Organisation für uns da ist, in der immer Aushandlungsprozesse stattfinden, weil das Ich und die Gemeinschaft, wunders nicht, tendenziell auch in Konflikt treten. Das heißt, Vertrauen und Fähigkeiten sind nicht so einfach übertragbar, weil die Summe der gemeinsamen Werte ständig im Fluss ist. In diesem Sinn ist Kultur gestaltbar … aber nur durch Mitgestalten. Interessant im Vortrag der beiden aus Berlin angereisten Referenten ist die Tatsache, dass Problematiken als Herausforderungen gesehen und behandelt werden. Daraus wird auch sichtbar, dass wir alle verschiedene Nutzerbedürfnisse in puncto Struktur haben. Dabei hilft die Klostermetapher, diesen Konflikt zu lösen. Pilger und Mönche fühlen sich frei, weil die Klosterelemente ein hohes Verpflichtungsgefühl und somit auch Halt geben. Dabei sind Rituale besonders wichtig. Neue Novizen nimmt man demnach über ein soziales Onboarding auf, womit sich in der Folge vielleicht die Erfahrung herausstellt, dass doch nicht alle richtig gleich sind. Gleich und gleichwertig ist jedoch nicht dasselbe, es meint vielmehr das Prinzip, sich auf Augenhöhe zu begegnen, wo dann alle schauen können, worauf sie Lust hätten. Das verlangt kluge Strategiearbeit, die auch Lust machen muss. Sonst geht gar nichts. Man soll also die Leute befähigen, sich selbst zu steuern und die Schnittstellenkompetenzfragen zwischen alter und neuer Welt gut ausverhandeln, um zu begreifen, es ist eine Kunst auszuhalten, dass man verschieden ist, wenn das Vertrauen und die Verlässlichkeit genuine Werte sind.

Kommunikation ist die einzige Möglichkeit, Menschen zu motivieren

Das führt zum Schluss zur Frage, was arbeitsfähige Teams neben einer differenzierten Rollenklärung und einem Regelwerk brauchen, neben einer sachlich-inhaltlichen Aufgabe und der emotionalen Sicherheit in den persönlichen Beziehungen. Nicht wer im Team ist, ist entscheidend, sondern wie das Team zusammenarbeitet, bestimmt den Erfolg.
Wir haben viel gehört gestern Abend und heute Vormittag, unter anderem, dass die Pyramidenstruktur mit der heutigen Komplexität in fast allen Organisationen überfordert ist, d. h. nicht mehr angemessen. Gery Hamel, Ökonom: „Herkömmliche Pyramidenstrukturen verlangen zu viel von zu wenigen und nicht genug von allen anderen.“ Man setzt auf Selbstverantwortung und -führung bei Teams und Individuen. Niklas Luhmann, Vertreter der soziologischen Systemtheorie und Soziokybernetik, propagierte 1984 in seinem Werk „Soziale Systeme“, Systeme formatieren sich durch Kommunikation. Diesen Gedanken muss man heute ergänzen um die Einsicht, „die einzige Möglichkeit, Menschen zu motivieren, ist die Kommunikation“.  Im Zentrum des Dienstagvormittags stand ebenfalls Kommunikation. Es geht thematisch auf „The Dark Horse“ bezogen auch um ethische Fragestellungen, wenn man etwa wie die beiden in Berlin angesiedelten Gäste mit Firmen zusammenarbeitet, die auf der einen Seite des Gipfels (links oder rechts) in der Frage des Klimawandels als ziemliche Belastung erfahrbar sind. Es gab, nicht unerwartet, keine Lösung, außer, wie ein Teilnehmer meinte, man arbeite mit jenen Personen in Firmen und Organisationen zusammen, die an Transformation interessiert sind. Die Frage der Vorarlberger Energiezukunft wäre noch ins Detail und in die Tiefe diskussionswert gewesen, das Format der Auseinandersetzung, mit dem „Redestein“, so vermute ich zumindest, taugt in diesem Themenkomplex nicht so unbedingt. „We are what we do“ – ein Teilnehmer brachte diesen Gedanken ein – ist natürlich ein Slogan, der aus der anglikanischen Welt nicht so leicht ins Vorarlbergische und dessen mentale Denktraditionen übertragen werden kann bzw. konnte, damals vor ein paar Jahren, als die wesentlichen Grundlagen und Analysen bereit standen, die politischen Eliten des Landes mit dem Backstage der entsprechenden ökonomischen Lobbies dies in den Kernelementen umlenkten, andere sagten dazu abmurksten. „We Are What We Do“ will Menschen inspirieren, mit einfachen, alltäglichen Dingen die Welt zu verbessern. Sie ist bestimmt durch die Überzeugung, dass jeder durch kleine Veränderungen in seiner Einstellung und seinem täglichen Leben etwas bewirken kann und so gemeinsam die Welt verändert werden kann.“ (wearewhatwedo.de)  

We are what we do

Ausgangspunkt der Bewegung ist der Ausspruch von Gandhi: „Sei die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst.“ Die langfristige Zielsetzung ist, We Are What We Do als eine weltweit agierende, soziale Marke zu etablieren. Eine Marke, die für positive gesellschaftliche Veränderung und soziale Verantwortung steht und einen sozialen Zweck verfolgt anstatt wirtschaftliche Gewinne.

Was für eine Ouvertüre! Was ist los, was ist angesagt? Intellektuelle Katarakte und musikalische Sternschnuppenraketen, eingebettet in den Spirit von Arbogast.  

Lesenswert ist der Aufsatz Dark Horse Christian Beinke, „New new Work“, in: Tage der Utopie. Entwürfe für eine gute Zukunft. Hrsg. von Hans-Joachim Gögl und Josef Kittinger, Bucher Verlag: Hohenems 2019. (= Ergänzende und vertiefende Texte der Festival-Sprecherinnen und –Sprecher 2019)

Tage der Utopie, 6. bis 11. Mai 2019
www.tagederutopie.org