Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Gunnar Landsgesell · 10. Jän 2013 · Film

Der Geschmack von Rost und Knochen

Ein junger Mann, rücksichtslos und "unschuldig" zugleich, von animalischer Härte, trifft auf eine Wal-Trainerin, der nach einem Unfall beide Beine fehlen. Was nach einer unglaubwürdigen Geschichte klingt, inszeniert Jacques Audiard als szenisch betörendes Körperkino der Sonderklasse.

Ungerührt, immer wieder von einer irritierenden eisigen Kälte durchzogen, um am Ende doch noch die Herzen aufzubrechen. So sieht die Welt aus, die Jacques Audiard („Ein Prophet“, „Der wilde Schlag meines Herzens“) mit seinen Filmen baut. Auch in „Der Geschmack von Rost und Knochen“ fährt der für Frankreich ungewöhnliche Filmemacher diesen Modus hoch. Ein junger Mann, emotional unreif wenn nicht abgestumpft, und von einer bestechenden Animalität angetrieben, wenn es um Rücksichtnahme gegenüber anderen ginge, trifft auf eine intelligente, selbstbestimmte Frau, eine Wal-Dompteurin in irgendeiner Seaworld, der nach einem Unfall die Beine fehlen werden. Eine Liebesgeschichte der ungewöhnlichen Art, so klingt das, aber auch nach einer der Berechnung: Dass sich am Ende dieses Films das Publikum zwischen Bewunderung und Empörung finden wird, liegt nicht an der Plausibilität dieser Rahmenhandlung. Wer nimmt einem Autor so etwas schon ab? Es liegt vielmehr daran, wie Audiard einmal mehr seine Version eines brachialen körperbetonten Kinos vorantreibt, in dem die Intensität der Kollisionen des Protagonisten mit seiner Umwelt Szene für Szene die emotionale Verfasstheit des Zusehers angreift. Wer solch ein dichtes Erleben auf die Leinwand zaubert, dabei mit ganz gewöhnlichen, alltäglichen Situationen arbeitet, versteht zu manipulieren.

Ausgequetscht bis auf den Rest

Im Fall von „Rost und Knochen“ heißt das, dass die Irritationen, die über die rohe Energie und Teilnahmslosigkeit von Ali (Matthias Schoenaerts) aufkommen, zunehmend einem Verständnis für diesen Mann weichen. Wer sein Kind, hier den fünfjährigen, süß ins Bild gesetzten Sohn, schlägt oder mit einem Wasserstrahl abspritzt, weil er in der Hundehütte spielt und angeblich nach Scheiße riecht, kann kein Sympathieträger sein. Doch Audiard lässt einem keine Wahl, von irgendwoher wurde dieser Ali angespült, ins Haus seiner Schwester (einer Supermarktverkäuferin, wie sie in vielen Filmen auftaucht, wenn es um Realismus geht), wo er als roher Klotz ein neues Betätigungsfeld zwischen Hinterhofkämpfen und Security-Arbeit ausbaut. So unerklärlich diese Figur ist, so sehr will sie ergründet werden. Mit der Wal-Trainerin Stephanie (Marion Cotillard, eine exzessive Rolle mehr für sie) findet Audiard eine ambivalentere zweite Hauptfigur. Eigenwillig und stark, aber auch versehrt, fehlt auch dieser Frau etwas im Leben. – Der an sich seltsame Gedanke, dass die „Defizite“ zweier Menschen (Empathie bei ihm, fehlende Körperteile bei ihr) sich zu einem Team neuer symbiotischer Lebensgier koppeln lassen, wirkt gar nicht seltsam bei Audiard, weil er die Formatierung seiner Bilder beherrscht: ein Strandcafe, das erste Zusammentreffen der Beiden nach dem Unfall: Ali steht auf und geht ins Meer, fordert sie auf, mitzukommen. Ohne Rücksicht, signalisieren die Bilder, aber am Ende wird sie auf seinen Armen doch im Meer liegen und, nur angerissen und ganz unpathetisch ins Bild gesetzt, wieder ein Stück ins Leben finden. Die Ambivalenz, wenn nicht Ambiguität solcher Bilder machen einen Teil der unheimlichen Strahlkraft von Audiards Filmen aus. Da verzeiht man ihm auch das vergleichsweise billige Ende (eine Eismetapher, die sich nahtlos an den Symbolismus der gefangenen und dennoch anmutigen Orcas reiht). Da ging Audiard, der seine Figuren ausquetscht bis zum letzten Rest, vielleicht selbst die Puste aus.