Der Mut zur Langsamkeit
Leo McFall und das SOV zeigen in ihrer Festspielmatinee brillante Vielfalt und neue Klänge.
Auch in diesem Jahr blieb es dem Symphonieorchester Vorarlberg vorbehalten, mit seiner Sonntagsmatinee den Schlusspunkt unter die Konzerte dieser Festspielsaison zu setzen. Schon die Woche zuvor wurde für die Musiker:innen zur Herausforderung. Der erfolgreichen Opernstudio-Premiere unter Claire Levacher vom Montag folgten drei weitere Vorstellungen, dazu wirkten einzelne Musiker:innen auf der Werkstattbühne beim Stück „Hold your breath“ mit. Das Zentrum aber bildete in dieser Woche unter Chefdirigent Leo McFall die intensive Vorbereitung auf die abschließende Matinee, und auch diese wurde zum rauschenden Erfolg vor ausverkauftem Haus. Alles in allem hat unser SOV damit erneut glänzend seine Kompetenz, Durchschlagskraft und Vielfalt als zweites Festspielorchester neben den Wiener Symphonikern unter Beweis gestellt. Darauf darf man ruhig auch ein bisschen stolz sein, oder?
„Carneval“ im Sommer?
„Carneval“ mitten im Hochsommer? Freilich, denn Antonin Dvoráks Ouvertüre op. 92 wird an diesem verregneten Sonntagvormittag zum kecken Aufwecker für das Publikum, dem die Musiker:innen in Hochform gleich noch die letzte Schlaftrunkenheit austreiben. Wie ein Wirbelwind fegt das Stück im Furiant-Rhythmus atemlos durch den Saal, temperamentvoll auf Trab gebracht von Leo McFall. Dem liegen diese leidenschaftlichen Aufschwünge ebenso wie die nachdenkliche slawische Streichermelodie für zart besaitete Gemüter. Eine Art Stimme der Natur in diesem Kontext ist das Solo, das die fabelhafte Konzertmeisterin Michaela Girardi als Rückbesinnung bereithält. Ein mitreißender, brillanter Auftakt, der schon die ersten Bravos hervorruft.
So energiegeladen und sprühend sich dieser „Carneval“ zu Beginn in großer Orchesterbesetzung auch anlässt, so zurückgenommen und versonnen gibt sich Leo McFall mit seinem SOV am Ende des Konzertes mit Beethovens berühmter „Pastorale“, seiner Symphonie Nr. 6 in F-Dur, op. 68. Der gewohnt elegant und überlegen agierende Dirigent hat sich in deutlich reduzierter klassischer Besetzung zu einer duftig kammermusikalischen, fast romantischen und in sich gekehrten Lesart entschlossen. Es ist der Mut der Langsamkeit, ohne dass dabei die notwendige Spannung im Getriebe fehlen würde. So erfreut man sich umso mehr an vielen liebevoll gezeichneten und ausgespielten Details dieser Programmmusik par excellence, auch wenn Beethoven von dieser Bezeichnung nichts wissen wollte.
Programmmusik par excellence
Da können sich nun Lerche und Kuckuck im schönsten Duett entfalten, die Landleute lassen ihren stampfenden Beinen freien Lauf, sogar das Gewitter bleibt eher verhalten und der Dankgesang am Schluss umso inniger. Wunderbar fügen sich die profilierten Solist:innen ins große Ganze ein: Anja Nowotny-Baldauf, Flöte, Heidrun Pflüger, Oboe, Francesco Negrini, Klarinette, Johanna Bilgeri, Fagott, und Andreas Schuchter, Horn. So detailliert, wie unter einer großen Lupe, hat man dieses Stück wohl selten erlebt. Es stammt aus dem Kernrepertoire Beethovens, das wohl jede:r Musikfreund:in zu kennen glaubt. Trotzdem beginnt ein Besucher schon nach dem ersten Satz lautstark zu klatschen, mehrere folgen ihm im guten Glauben – ein peinlicher Ausrutscher in einem Festspielkonzert, der dem Verursacher einen indignierten Blick des Dirigenten einträgt.
Nicht als Brücke zwischen diesen beiden Werken, sondern als ehernes Manifest für die Musik unserer Zeit, wie sie die Bregenzer Festspiele ja auch in der Ära von Intendantin Elisabeth Sobotka stets konsequent gepflegt haben, ist „Follow me“ zu verstehen. Es ist ein Konzert für Violine und Orchester des tschechischen Komponisten Ondřej Adámek, der als erfinderischer Klangpionier gilt. Dessen Musiktheater „Unmögliche Verbindung“ erlebte heuer im Auftrag der Festspiele quasi als Appetizer dazu auf der Werkstattbühne seine Uraufführung, das Konzert wurde 2017 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erstmals gespielt und nun als österreichische Erstaufführung gegeben.
Es ist ein faszinierendes Werk aus ungewöhnlich generierten Klängen, instrumentiert mit einem großen Orchesterapparat mit zwei Paukisten und jeder Menge Percussions. Es begeistert die Zuhörer:innen durch seine konsequent durchgehaltene Idee, die Musiker:innen haben damit offenbar ebenso ihren Spaß. Angesteckt werden sie dabei von der Solistin, der deutschen Geigerin Franziska Hölscher, die auch als Festival-Leiterin bereits Bühnenprogramm entwickelte und durch verschiedene außermusikalische Aktivitäten aufgefallen ist.
Dialog Solovioline – Orchester
Eine solche gilt es auch hier zu bestehen, nämlich den nicht neuen Einfall eines Dialogs zwischen Solistin und Orchester. Das beginnt ganz harmlos mit einem lockeren Zwiegespräch der Sologeige mit jener der Konzertmeisterin, das freilich rasch in ein Wortgefecht ausartet und an einen Fall von Stutenbissigkeit erinnert. Diese Dialoge werden immer intensiver, erstrecken sich mit der Zeit auf das ganze Orchester, das mit besonderen Techniken der Neuen Musik stellenweise verblüffend spielt, als würden viele Leute gemeinsam durcheinander sprechen: ein auskomponiertes Spiel über Macht und Ohnmacht.
In der Musik müssen dafür mittelalterliche Techniken, Bach-Zitate, Romantik-Fetzen, Verzerrungen und bei Solo und Orchester über weite Strecken das Sul Ponticello-Spiel herhalten, bei dem der Bogen möglichst nah am Steg geführt wird und sich dadurch ein besonderer, obertonreicher Klang entwickelt. Das alles lädt sich zu einem allgemeinen Wutausbruch des Orchesters auf und endet nun – und das ist das Neue daran – damit, dass die Solovioline überrannt wird und sich auf die Seitenbühne flüchtet, von wo aus sie ihre letzten schüchternen Melodiefragmente einwendet. Komponist Adámek im O-Ton: „Der Mob brüllt sie nieder, sie wird symbolisch hingerichtet.“
Ein faszinierendes Stück neuer Musik mit einem vom Publikum gut nachvollziehbaren Programm. Man hat in Bregenz zuletzt selten eine aktuelle Komposition mit so viel Beifall aufgenommen wie diese, inklusive der Interpret:innen natürlich. Ganz am Schluss dieses letzten SOV-Konzertes der Saison richtet Chefdirigent Leo McFall noch herzliche Abschieds- und Dankesworte an die scheidende Intendantin Elisabeth Sobotka.
Das SOV im Radio
30. August, 19.30 Uhr, Ö1; 2. und 9. September, 21.00 Uhr, ORF Radio Vorarlberg