Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Annette Raschner · 02. Mai 2023 · Literatur

Christina Walker: „Kleine Schule des Fliegens“

Ein Lernender in punkto Entschleunigung: Das ist Busch, der Held in Christina Walkers Debütroman „Auto“, der vor eineinhalb Jahren erschienen ist. Eine Art Burnout hatte den einstigen Vertreter in die Knie gezwungen und eine Übersiedelung in dessen alten Mercedes erwirkt. Unfreiwillig ist auch der Rückzug von Herrn Höch, dem Protagonisten im neuen Roman der gebürtigen Bregenzerin. Er trägt den Titel „Kleine Schule des Fliegens“.

„Ich betrachtete die Zehen in Socken unter der Glasplatte. Sie sagten mir nichts.“
Die Glasplatte ist ein Objekt jener Wohnung, in der Herr Höch vorübergehend unterkommt, um sich nach einer überstandenen Chemotherapie zu erholen. Seine Frau Eva, eine Psychotherapeutin mit dominanten Zügen, überwacht derweil die Renovierungsarbeiten des gemeinsamen Heimes. Höch fühlt sich einsam, vernachlässigt und von sich selbst entfremdet. „Die Teetasse brannte in meiner Hand. Es war ein beruhigendes Gefühl, noch so starke Empfindungen zu haben.“
Das Übermaß an Zeit erweist sich als ebenso herausfordernd, wie die häufige Anwesenheit von Melitta Miller, die stets unaufgefordert und unangekündigt auftaucht, um nach dem Rechten zu sehen. Melitta ist offenbar die Geliebte von Höchs Bruder Georg, in dessen Wohnung er sich befindet. „Ihre Augen hatten fast dieselbe Farbe wie ihre Haare. Rotbraun. Ein Reh, ein Fuchs, einer dieser Jagdhunde mit Schlappohren, die beim Rennen um den Kopf schlagen, kamen mir in den Sinn.“
Höch ist ein Mann mit akutem Handlungsbedarf. Von seiner Frau verbannt und von seiner schweren Erkrankung verängstigt, beschließt er, „vorerst nicht mehr auf Frauen zu hören.“ „Es war Zeit für mehr Widerstand, für mehr Vorstellungskraft.“ Zumal Kranke und Gekränkte wie er mehr Rücksicht verdienten.

Aus den Höhen und Tiefen des Lebens destilliert

Bereits zum zweiten Mal hat sich Christina Walker für einen männlichen Protagonisten entschieden, was umso erwähnenswerter ist, weil sie jeweils tief in deren Seelen blicken lässt. Die zweifache Gewinnerin des Vorarlberger Literaturpreises (2007 und 2018) ist eine äußerst feinfühlige Autorin, der es nicht um spektakuläre Plots, sondern um Geschichten geht, die sie aus den Höhen und Tiefen des Lebens destilliert. Diese erzählt sie mit feinem Humor und stilistischer Eleganz. „Ich war mit Wimpern, Wünschen und der Leere beschäftigt, die es zu überbrücken galt.“
Herr Höch macht sich viele Gedanken, etwa über das Wesen von Gummibäumen in Georgs Wohnung und den Charakter von Krähen. Denn die haben sich zuhauf in der Platane vor seinem Fenster niedergelassen, um ein Nest zu bauen. Melitta Miller startet als erste einen Feldzug gegen die Vögel. Doch weder Schreckballon noch Munition fruchten, und Höch nimmt sich ein Beispiel an der Hartnäckigkeit und Resilienz der Tiere. „Im Grunde steckte ich schon längst mit diesen Vögeln unter einer Decke. Zumindest moralisch und empathisch, wie sich das unter Leidensgenossen automatisch einstellt. Mir wurde die Heimkehr verwehrt, den Vögeln die Ankunft.“
Herr Höch ist Schriftsteller. Und wie es sich für die Guten in seiner Zunft gehört, recherchiert er akribisch. Im alten Rom hatten die Krähen und Raben den Auguren mit ihrem Flug und Geschrei die Stimmung der Götter angezeigt. Die Inuit wiederum glaubten daran, dass Rabenvögel silberne Steine in den Himmel warfen, um die Milchstraße zu erschaffen. Und die Germanen lasen aus ihrem Flug die Zukunft. „Wer keinen festen Boden unter den Füßen hat, ist für die Fähigkeit der Raben und Krähen dankbar. Für ihre Weitsicht. Für ihren untrüglichen Instinkt. Für ihre Klugheit. Für ihre Ausdauer.“ Das alles erzählt Höch Melitta Miller, doch sie lässt sich weder erweichen noch für die Saatkrähen erwärmen. Stattdessen beginnt sein eigenes Herz schneller zu schlagen, wenn er sie sieht.

Was es mit dem Glück so auf sich hat

„Kleine Schule des Fliegens“ hat Christina Walker ihren neuen Roman genannt, man könnte ihn auch „kleine Anleitung des Fliegens“ nennen. Schließlich steht die Suche nach Glück im Zentrum. Natürlich weiß auch ein so kluger Mann wie Herr Höch, dass das Glück ein Hund, nein, ein Vogerl ist. Aber dass die ewige Sehnsucht danach, es manchmal, wenn auch nur für einen Moment, zu erhaschen, uns Menschen auszeichnet, davon erzählt dieses schöne, melancholische Buch. „Ich hätte entgegnen sollen, dass es so etwas wie Heimat gar nicht gibt, dass Heimat im Grunde bloß eine Reihenhausfassade ist, ein sturmgebeuteltes Krähennest, fremde Lippen, die unnachgiebig auf den eigenen liegen. Lauter Kulissen, lauter verlockende, kurzlebige Ideen, die selten halten, was sie so leichthin behaupten.“
Herr Höch besitzt genügend Lebenserfahrung, um zu wissen, dass es das Oben ohne das Unten nicht geben kann. Erinnerungen an seine Zeit im Krankenhaus kommen hoch. Dort, wo man eigentlich schon die Hoffnung aufgegeben hat, gab es einen etwas aufdringlichen Zimmernachbarn. Schuster hatte die Angewohnheit, „hartnäckig an die Tür des winzigen Badezimmers zu klopfen, das zwischen unseren Zimmern lag und das wir uns teilten.“ Schuster und Höch: Der eine Installateur, der andere ein Intellektueller, beide vereint durch die Angst vor dem Tod und die Sehnsucht nach dem Leben. Ein ungleiches Freundespaar wie Heinzi Bösel und Kurt Fellner im Film „Indien“. Hier dreht Christina Walker die Schraube noch um eine existenzielle Wendung weiter. Vorsicht: Tränen könnten durchaus fließen!

Christina Walker: Kleine Schule des Fliegens, Braumüller Verlag, Wien 2023, gebunden, 208 Seiten, ISBN 978 3 99200 342 6, € 22