Neue Ausstellung im KUB ab 1. Februar 2025: Precious Okoyomon, To See the Earth before the End of the World, 2022, 59th Biennale Vendedig, 2022 (Foto: Clelia Cadamuro, © Okoyomon)
Anita Grüneis · 12. Nov 2024 · Literatur, Musik

Antoine Lemaire: „Rock ’n’ Roll im Fürstentum“

Mr. Rock ’n’ Roll von Liechtenstein und seine wilden Jahre

Antoine Lemaire war drei Jahre alt, als er nach Liechtenstein kam. Mit 17 Jahren rüttelte er das Musikleben im Fürstentum und der Region auf. Nun hat er ein Buch über seine wilden Jahre geschrieben und nennt es: „Rock ’n’ Roll im Fürstentum, wie wir in den 70er Jahren die Musiklandschaft des Rheintals auf den Kopf stellten“. Damit beglückte er nicht nur sich selbst zum siebzigsten Geburtstag, sondern auch viele Weggefährt:innen, die diese Zeit miterlebt haben. Eine Zeit, in der dank ihm und seinem Freund Thomy Elber Rocklegenden wie Cat Stevens oder Leonard Cohen auf den Bühnen Liechtensteins und Vorarlbergs gastierten.

Antoine Lemaire wurde 1954 in der Bretagne geboren. Sein Großvater hatte eine Zahnfabrik in Frankreich, in der auch sein Vater arbeitete. Nach dem Tod des Großvaters wechselte der Vater in die Betriebsleitung der Schaaner Firma Ivoclar und so zog die Familie nach Liechtenstein. „Wir waren offenbar die allererste Familie (Anm. d. Red. aus Frankreich) in Liechtenstein, wie man uns damals bei der Anmeldung auf der Gemeinde sagte. Daher war das schon eine kleine Sensation, zumal auch meine Grossmutter und zwei Schwestern meiner Mutter uns nachfolgten“, heißt es im Buch. Die Familie wohnte damals im alten „Brunharthaus“, in dem heute ein Teil der Musikschule und die Verwaltung des TAK-Theaters untergebracht sind.

Der Gamechanger

„Mit sechs Jahren wurde Thomy mein bester Freund. Wir kamen gemeinsam in die erste Klasse und waren vom ersten Tag am unzertrennlich. In diesem Alter funktioniert so etwas automatisch. Warum, weiss niemand“, schreibt Antoine Lemaire. Ihre schulischen Wege trennten sich, als Antoine ins Bundesgymnasium Feldkirch wechselte, das vor ihm schon seine älteren Brüder Philippe und Jean besucht hatten, und Thomy in das Gymnasium Vaduz – damals „Marianum“ genannt. Die beiden Teenager trafen sich aber weiterhin regelmäßig, denn sie verband unter anderem eine gemeinsame Vorliebe: „hübsche Mädchen und Musik“. Der 4. Juni 1972 wurde für sie zu einer Art Gamechanger. „Wir hatten zuvor schon einige Konzerte in St. Gallen, Zürich und Umgebung besucht. Aber an diesem Tag war alles irgendwie anders. Da zog es uns, wie man so schön sagt, die Ärmel rein. Wir befanden uns an einem Konzert von ,Uriah Heep‘ in der Winterthurer Eulachhalle. Die Band rund um Ken Hensley, Mick Box und David Byron hatte es uns angetan [...] Wir waren zugleich fasziniert und verärgert, weil wir für solche Anlässe immer so weit reisen mussten. Aus diesem Frust heraus entstand an diesem Abend der Traum, Konzerte in Liechtenstein zu veranstalten.“

Die mutigen Grünschnäbel

Aus dem Traum wurde Realität. Die zwei erkundigten sich ausführlich über Konzert-Möglichkeiten in Liechtenstein und Antoine lernte über Bekannte André Béchir kennen, der später mit der Konzertagentur Good News zum größten Konzertveranstalter der Schweiz wurde. Sie kamen auf die Idee, Bands nach Konzerten in Bern, Basel oder Zürich auch in Liechtenstein auftreten zu lassen. Aber wo? Der Vaduzer-Saal fasste damals maximal 850 Personen. Nach dem Motto „Klein aber fein“ wagten Antoine und Thomy ihr erstes Projekt mit der deutschen Gruppe Jane. Sie hatten sich ausgerechnet, dass auch mit einem halbvollen Vaduzer-Saal der Break-Even erreicht werden konnte. „Eigentlich schon verrückt: Thomy und ich waren gerade mal 19 Jahre alt und noch völlige Grünschnäbel in der Branche. Trotzdem liess man uns eine solche Kiste ganz alleine durchziehen. Das schien niemanden zu stören. Offenbar strahlten wir etwas aus, das unseren Partnern die Sicherheit gab, alles im Griff zu haben. Und wir enttäuschten niemanden, denn wir lernten schnell. Und damit verbunden wuchs der Appetit: Wir wollten hoch hinaus mit unserer eigenen Agentur, die wir ‚Eagle Productions’ nannten und die bald überregional zum Begriff wurde.“

So markierte das Konzert am 17. August 1974 den Beginn der Eagle Productions.

Antoine Lemaire war damals Schüler in der Abschlussklasse an der Kantonsschule in Sargans, Thomy Elber im dritten Lehrjahr seiner Kaufmännischen Ausbildung bei der Hilti AG in Schaan. Bereits am 17. Oktober 1974 sollte der nächste Gig mit der norwegischen Progressive-Rock-Band Titanic und mit Mott the Hopple folgen. Der Vaduzer-Saal war ausverkauft, doch die Band Titanic tauchte nicht auf. Irgendwann erfuhren sie, dass der Leadsänger verunglückt war und so musste Antoine Lemaire vor das Publikum treten und verkünden, dass nur Mott The Hopple spielen werde. „Die Enttäuschung war gross und das Pfeifkonzert tat richtig weh. Doch zusammen mit dem Duo Breakfast, das kurzfristig eingesprungen war, kam der Saal dann trotzdem noch in Fahrt.“ Nach dem Konzert stieg im Hotel Schössle eine After-Show-Party, zu der sich zahlreiche Fans gesellten. Vor dem Haupteingang musste ein Türsteher positioniert werden, um die vor allem weiblichen Fans in Schach zu halten. „Wir mussten uns erst einmal an solche Vorkommnisse gewöhnen, denn wir waren das bei uns auf dem Land natürlich nicht so gewohnt.“ 

Mit Ausfällen leben lernen

Doch bald gewöhnten sich die beiden Eagles sowohl an unvorhergesehenen Absagen wie auch an ausufernde After-Show-Partys. Bereits Ende Oktober mussten sie den nächsten Ausfall verkraften: Das Konzert mit The Sweet war wieder komplett ausverkauft, als drei Tage davor ein Bandmitglied ins Spital eingeliefert wurde. Eine kleine Entschädigung war dann das Konzert mit Procol Harum, auch wenn auf den Plakaten der Name falsch geschrieben war. Woodstock Flair gab es am 24. November bei einem 5 1/2 Stunden Mega-Konzert im Gemeindesaal Eschen, bei dem Country Joe McDonald, die Band Exoti aus Will, der Folksänger Peter Schäfer und die damals populäre Band Clockwork mit Reinhold Bilgeri auftraten. Im März 1975 erfolgte der Auftritt von Nazareth. Die vier schottischen Musiker genossen die Bergwelt Liechtensteins und ihren Whisky, der vertraglich geregelt in der Garderobe stand. Für jeden Musiker je eine Flasche, was fatale Folgen hatte. „Plötzlich kam der Leadsänger der Band, Dan McCafferty, auf mich zu und bat mich mit seiner urgewaltigen Rockstimme, den Bühnenvorhang kurz zu schliessen. Dann packten wir zu dritt Darrell Sweet, trugen ihn die Treppe hoch zur Bühne und setzten ihn an sein Schlagzeug. Ich konnte es kaum fassen und wartete eigentlich nur darauf, dass dieser geniale Drummer das Gleichgewicht verlieren und nach hinten knallen würde. Der Vorhang ging auf, die Fans jubelten der Band zu und sogleich starteten sie fulminant mit ihrem damals grössten Hit „This Flight Tonight“. Ich traute meinen Augen nicht, aber Darrell Sweet war hellwach an seinem Schlagzeug und niemand, aber auch wirklich niemand, hätte vermuten können, dass dieser Mann gerade noch im Vollrausch zum Schlagzeug hatte getragen werden müssen.“

Weitermachen – aber anders

Eine After-Show-Party von Elton John in Zürich wurde für Antoine Lemaire zum Umkehrpunkt. In dieser wilden Nacht gab es drinnen wie draußen alles, was das Herz begehrte: „Kaviar, Champagner, aber auch Drogen aller Art in jeder Ecke des Hauses. Es war eine Unbekümmertheit vorhanden, die diesen Zeitgeist prägte.“ Er selbst aber spürte in sich eine Bremse. „Irgendwas in mir weigerte sich, hier weiter mitzumachen. Ich empfand diese Welt als künstlich und instabil. Eine Welt, in der man unheimlich viel Kraft aufwenden musste, um nicht völlig abzustürzen, wie es in diesen Jahren so viele taten. Im Nachhinein war dieser Abend für mich wichtig. Ich realisierte, wie nahe in dieser Szene Hochmut und Fall beieinander liegen. Ich begriff, dass ich wohl bald entscheiden musste: Aufhören oder weitermachen.“
Antoine Lemaire machte weiter, aber nicht in der Rock ’n’ Roll-Szene. Vier äußerst bewegte Jahre waren genug. Er holte noch James Last in die Lustenauer Eishalle, Status Quo in die Stadthalle Dornbirn, Otto Walkes, Richard Clayderman, Demis Roussos und Gheorghe Zamfir nach Liechtenstein und erlebte Pink-Floyd-Konzerte backstage. Und auch in seinem Privatleben hatte es eine Veränderung gegeben. Seine spätere Frau Ulrike hatte er zunächst hin und wieder flüchtig in Vorarlberg und Liechtenstein gesehen, sie dann aber in Zermatt besucht, wo sie bei ihrem Onkel während der Wintersaison arbeitete. Da hat er sich dann so richtig verliebt. „Wir haben 1976 geheiratet, weil unsere Fabienne unterwegs war. Ich war damals 21 Jahre alt, wir heirateten nur standesamtlich und niemand gab uns zu diesem Zeitpunkt eine Chance. Nun sind wir genau 50 Jahre zusammen und seit 48 Jahren verheiratet. Es gibt sie also doch noch, diese kleinen Wunder.“
Ab 1983 managte Antoine Lemaire für das Travestieduo Mary & Gordy Auftritte im TAK und trat später mit Mary als Quizmaster im ZDF auf. Damals arbeitete er bereits hauptberuflich bei der Möbelfirma IMS in Bendern und war für diese oft wochenlang in China und Indonesien unterwegs. Daneben hatte er freiberuflich ein Engagement als Radio- und Fernsehkommentator. 2004 machte er sich mit seiner Firma face2face im Möbelgeschäft selbständig, seit rund fünf Jahren ist er pensioniert, aber keineswegs im Ruhestand. Was nicht nur sein Buch beweist. Er ist weiterhin mit seiner Möbelagentur aktiv unterwegs. „Ich reise immer noch viel zu meinen Partnern, Lieferanten und Kunden. Ich liebe das Herumreisen. Und musikalisch bin ich immer noch ein ,alter Rocker‘. Ich liebe die Rock- und Pop-Musik der 60er und 70er Jahre.“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2024 erschienen.

Antoine Lemaire: Rock ‘n‘ Roll im Fürstentum. Wie wir in den 1970ern die Musiklandschaft des Rheintals auf den Kopf stellten.
Van Eck Verlag, Triesen 2024, 200 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-905881-78-3, € 31,50