Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Niedermair · 29. Apr 2021 · Aktuell

Tage der Utopie 2021: Matthias Glaubrecht - Das Ende vom Ende der Artenvielfalt Dienstag, 27. April, 17.00 Uhr, online per Live-Stream / und Kulturbühne AMBACH Götzis und Mittwoch, 28. April 9.15 bis 12.00

Der größte Artenschwund seit dem Aussterben der Dinosaurier ist gerade im Gange. Der in Hamburg lebende Evolutionsbiologe Professor Matthias Glaubrecht sieht deshalb eine weltweite Tragödie auf uns zukommen. Der Mensch, wie der Vortragende online aus Hamburg am Dienstagabend um 17 Uhr referierte, was er am folgenden Mittwochvormittag, am 28. April, im Gespräch mit den Teilnehmer*innen des Workshops im Bildungshaus Arbogast mit Blick auf die kumulative evolutionäre Entwicklung nochmals weiter in die Tiefe ausdifferenzierte, sei heute zum größten Raubtier und zum entscheidenden Evolutionsfaktor mutiert, der die Existenz aller Lebewesen gefährdet. Mit der Zerstörung der Lebensgrundlage vieler großer Säugetiere und dem globalen Vogel- und Insektensterben sei auch die Existenz des Menschen auf diesem Planeten gefährdet. Mit seinem Band „Das Ende der Evolution“ hat Matthias Glaubrecht eine umfassende und gleichzeitig beklemmende Analyse zur Vernichtung und dem Sterben der Arten präsentiert. In einem utopischen Bericht aus der Zukunft mit Blick auf das Jahr 2062 schildert der Wissenschaftler konkrete Maßnahmen, wie die Menschheit die Wende in unserer Zeit heute gerade noch schaffte. Ob das Ende der Evolution, das spätestens ab Mitte des 21. Jahrhunderts ein realistisches Szenario zu werden droht, noch aufzuhalten sein wird, darüber wird allein, führt er aus, unser Tun in den unmittelbar vor uns liegenden drei Jahrzehnten entscheiden. In „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“, Bertelsmann, München 2019, beschäftigt er sich mit dem Artenschwund seit dem Aussterben der Dinosaurier. Mit der Zerstörung der Lebensgrundlage vieler großer Säugetiere und dem globalen Vogel- und Insektensterben werde auch die Existenz der Menschen gefährdet.

So schnell wie die Arten verschwinden, kommt die Forschung nicht mehr hinterher.

Als Evolutionsbiologe hat Matthias Glaubrecht gut 500 Millionen Jahre „im Blick“. Der Homo Sapiens mit einem Alter von gerade einmal knapp 300.000 Jahren sei in dieser Hinsicht „wirklich noch ein ganz junger Neuzugang in der Evolution“ oder etwas weniger freundlich ausgedrückt: „eine Eintagsfliege der Evolution“. Umso alarmierender findet der 59-Jährige, wie sehr die Anwesenheit des Menschen dem Planeten zusetze. Dass Arten aussterben, hält Matthias Glaubrecht zwar für „ein ganz normales Phänomen der Evolution“. Es gehe aber um das Ausmaß und die Schnelligkeit, mit der das durch den Menschen geschehe: „Das ist nur vergleichbar mit dem katastrophalen Einschlag eines Meteoriten“, so wie er den Dinosauriern zum Verhängnis wurde. Ihnen kann man mangelnde Anpassungsfähigkeit ebenso wenig vorwerfen wie der heutigen Flora und Fauna, die dem Wüten des Menschen ausgesetzt ist, heißt es 2020 in einem Radiokolleg des Deutschlandfunks.

Der Klimawandel ist längst in aller Munde, von der New York Times über den Guardian, von der Pravda bis zum Economist. Die 2003 in Stockholm geborene Greta Thunberg ist Klimaaktivistin, die von ihr initiierten „Schulstreiks für das Klima“ sind inzwischen zur globalen Bewegung Fridays for Future (FFF) gewachsen. Doch so alarmierende Ausmaße der Klimawandel auch angenommen hat – er ist nur Nebenschauplatz angesichts der apokalyptischen Reiter, die in einem Akt der Verwüstung gegenwärtig über die Erde ziehen: Bevölkerungsexplosion, Ressourcenverknappung, Umweltzerstörung und Artensterben.

Matthias Glaubrecht ist Evolutionsbiologe und Professor für Biodiversität und leitet das Centrum für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg. Er forscht über evolutionäre Systematik, historische Biogeographie, Morphologie und die Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Matthias Glaubrecht publiziert als Wissenschaftsjournalist für Zeitungen und Zeitschriften, u.a. DIE ZEIT, den Tagesspiegel oder die Frankfurter Rundschau.

Die Vorstellung des Referenten, „ein Kind der Sechzigerjahre“, hörten die 100 Gäste in der Kulturbühne AMBACH und die ca 1200 Interessierten, die über den online Live-Stream zugeschaltet waren, von Biologin Anette Herburger, aus der Teamleitung Forschung der inatura. Dieser Vortrag ebenso wie der Workshop sind eine Kooperation mit der inatura – Erlebnis Naturschau Dornbirn.

Zitat Glaubrecht „wir haben nur diesen Planeten, wir haben nur diesen einzigen“

Die diesjährigen Artists in der Residency der Tage der Utopie, Christoph Reuter und Juri de Marco, wählten für den Kompositionsauftrag die 9. Sinfonie e-Moll op. 95 von Antonín Dvořák „Aus der Neuen Welt“, die von seinem dreijährigen Aufenthalt in den USA ab 1892 beeinflusst war. Die beiden Musiker-Komponisten greifen mit dieser Folie der Sinfonie eine Musik auf, mit der sie uns teilhaben lassen am Spirit, wie eine Dramaturgie von einer Utopie entsteht. In Antonín Dvořáks Sinfonie geht es neben der halbtonlosen fünftönigen Skala der Pentatonik, die in der Musik der Indianer gebräuchlich war, vor allem auch um die wichtige Rolle, die Longfellows Dichtung über Hiawatha, der Häuptling, der den Irokesen-Bund der Indianer begründete. Vor allem in den auf die Vorträge folgenden Improvisationen, die, wie sie am Mittwochabend andeuteten, zwar vorgefühlt aber dann doch wieder verworfen werden, sind Anklänge an die Slawischen Tänze und Anspielungen auf die Mährischen Duette zu hören. Sie weben wie Penelope einen Teppich für den Prozess des Innehaltens und vorläufigen Wartens auf den Gesang der Vögel. Die beiden Musiker holen Antonín Dvořáks Sinfonie ins 21. Jahrhundert. Welche musikalische Resonanz und vor allem welche Töne werden da noch kommen?

Haben wir die Chance diese Entwicklung aufzuhalten?

Von 2062 zurückblicken, das ist die Erzählperspektive des Evolutionsforschers. Dabei geht es im Innersten, im Moment des Lebens auch um die Fragen, was wir denn unseren Kindern auf deren Fragen eines Tages sagen werden, wo wir denn gewesen seien, damals, als die Fragen nach dem Artensterben dermaßen unüberhörbar akut waren. Also. Gerade weil wir wissen, wie krisenhaft unsere Gegenwart ist, wie beängstigend alles in Bewegung geraten ist. Und wir eigentlich wissen, dass alte Gewissheiten nicht mehr gelten, aber die Chance da ist, sich umzustellen, anders denken, handeln, anders leben, wie es Ariadne von Schirach am Mittwoch in ihrem poetisch-leidenschaftlichen Plädoyer. Wissen wir schon, wer wir sind? Wissen wir, dass wir auf Ruinen leben? So, und jetzt: Wir wollen uns nicht mehr einlassen in die intergenerationellen Systeme des Beschweigens, dieser Conspiracy of Silence, dass die Alten nicht mehr wagen, den Jungen wirklich zu sagen, was denn los war, weil die Narrative auf den Schultern des schlechten Gewissens viel zu elend sind, während die Jungen die im Raum stehende, nicht wirklich artikulierbare Geschichte, die so viele Anwürfnisse enthielte, spüren. Derweil steigen wir mit der wunderbaren Musik die Treppen hoch, die ohne Geländer sind, wie wir von Hannah Arendt wissen, treten auf die Balkone hinaus und blicken ins Land, in den lichten Sonnenfrühlingsnachmittag. „Mit gelben Birnen hänget und voll mit wilden Rosen in den See. ... Weh mir, wo nehm' ich, wenn. Es Winter ist, die Blumen, und wo. Den Sonnenschein“ – schreibt Friedrich Hölderlin 1804 in „Die Hälfte des Lebens“-. 

Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung

Bei der Reise zum Mond im Dezember 1968, als wir mit der Mondfähre die Erde umrunden, entstand in der Zäsur des Augenblick „Earthrise“, jenes Foto, das zum Symbol der Fragilität der Erde wurde. Wir wollten den Mond entdecken, doch was wir mit Apollo 8 wirklich entdeckten, war die Erde. Wir Erdlinge begriffen, dass wir nur diesen einen Planeten haben. Heute leben wir weiter mit diesen Paradoxien, wir träumen vom Wasser auf dem Mars, haben aber gleichzeitig auf der Erde noch gar nicht alle Wasser erkundet. Wichtig und entscheidend ist, wie wir das Bild der Zukunft als Fortschreibung der Vergangenheit, im Sinne einer realistischen Utopie begreifen, die Welt zu sehen, wie sie ist und uns vorstellen, wie sie sein könnte. Im großen Bild von der Evolution des Menschen und seinem Auszug aus Afrika, sind wir eine Eintagsfliege, vor 70000 Jahren, als wir in den aufrechten Gang des hominiden Affens wechselten, zum homo erectus wurden, vom Vierfüßer zum Zweifüßer, sind wir in kurzer Zeit, zuerst nach Australien, über die Beringstraße nach Nord- und Südamerika und es brauchte nur wenige tausend Jahre, bis sich der Mensch ausgebreitet hat. Der moderne Mensch als Pionier. Wenn wir heute am Strand spazieren gehen, spiegeln wir evolutionsbiologisch mit diesem Gang dieses Nomadentum. Und welche Schutzmaßnahmen, fragen uns unsere Kinder, wollen wir ergreifen, um die Biodiversität zu erhalten, die Regenwälder, bevor der Wald wie an etlichen Stellen im Amazonas oder auf Borneo in die Savanne übergeht, und um wie vieles mehr müssten wir die 800 relevanten Ökobereiche auf unserem Planeten schützen, den Green Deal in der EU weiter ausstatten.

Und vom Ende der Rasenroboter

Wie müssten wir den Menschen als Evolutionsfaktor mit Wissen und Vernunft ausstatten, um zu regulieren, um die Gärten und Häuser, in denen wir leben, in den Dienst des Artenschutzes zu stellen? Mit welchem Demonstrationszug müssten wir die Rasenroboter-Diskussion klug und rücksichtsvoll als erfolgreich für beendet erklären und sagen, es gehört zum guten Ton, die Löwenzahnfallschirme zu verblasen, wenn wir hinüber gehen zum frühlingsknollenden Rhabarber, wenn die Katzen wie bengalische Tiger über den nicht gemähten Rasen tapsen. Wie viele zugeschüttete Flächen in den Kommunen müssten wir wieder ausgraben und die Wässer mäandern lassen, und wie kämen wir in eine andere Art der Agrarproduktion nach ökologischen Regeln. Wie müssten wir den Wald gestalten, bevor wir wieder mit Rotkäppchen zur Großmutter spazierten? Wie reden wir mit unseren Kindern, über die Vielfalt der Arten, weil viele Varianten im Angebot das Überleben sichern. Es gibt Chancen, wenn wir in den nächsten drei Jahrzehnten die Destruktion in ein anderes Drehmoment lenken, und die Autopoesie des  Planeten, der sich selbst steuert, bevor der Imperium der Natur zurückschlägt. Wir brauchen Träume von der Transformation, Träume von der Utopie. Von der einzigen Chance. Anstatt jedes Jahr eine andere Sau durchs Dorf zu treiben. Sondern uns der Zusammenhänge bewusst werden. Zu Forscher*innen werden, die die Biodiversität wahrnehmen und über die kulturellen Bedingtheiten nachdenken, das Laborieren an den Symptomen mit radikalen Diagnosen verändern. Uns auf den Weg machen. Utopie ist auch das Streben nach einem Nicht-Ort. Der Natur eine Zukunft geben.  

Wir haben nur einen Planeten

Die Improvisation der beiden Musiker nach dem Vortrag war wild und ungestüm. Heulend. Atemlos. Anders als das Vorspiel. Horn und Klavier. Die entschwundene Zeit. Ein Anlauf. Ein Versuch, den Planeten loszueisen, und mit dem Bösendorfer leiser und leiser werden, als könnten die Fußabdrucke ein Stück weit entschweben und wir, bevor wir die Welt ausklingen lassen und uns fragen, na, und wie weiter, wenn wir jetzt in den Abend hinausgehen. Schwuppdiwupp. Walter Krieg, Pionier des Geotopschutzes in Österreich, wurde 1967 Direktor der Vorarlberger Naturschau in der Dornbirner Marktstraße, er war erster Amtssachverständiger für Natur- und Landschaftsschutz in Vorarlberg. Und immer in dieser Jahreszeit wie jetzt, im Frühling, stieg er mit seiner Staffelei den Dornbirner Berg hinauf und malte das weiße Blütenmeer der Birnenhochstämmer von Hohenweiler, Hörbranz, Lochau bis hinunter nach Brederis und Meiningen, im Feldkircher Süden Vorarlbergs. 510.000 solcher Baumriesen gab es damals laut Landschaftsarchitekt Hans Zaugg, der das beforscht hatte.

Lob des Spaziergangs!

Die kommunikative Interaktion über diese Welt und unsere Fragen ist auch ein biologischer Prozess; wenn Menschen miteinander in Resonanz kommen, d.h. dass wir erhalten und   anderen geben, wenn Signale, Sprache, Körpersprache, Gefühle und Intentionen aufgenommen werden, kommt ein Spiegelsystem in Gang. Die Systemprozesse für den Perspektivwechsel spielen sich im präfrontalen Kortex ab, dieser hat Informationen, wie sich das, was wir einander spiegeln, wahrnehmen lässt. Eine wahre künstlerische Entscheidung über die Arten und deren Vielfalt, deren Leben und Überleben zu denken, liegt in „la grande ligne“, die die disparaten Teile dieser Welt zusammenhält. Es lässt einen mit dem Wunsch zurück, dass Arvo Pärt nie aufgehört hätte, Cantus in Memory of Benjamin Britten zu spielen. Und, dass wir morgen wieder „Aus der Neuen Welt“ in der Version von Christoph Reuter und Juri de Marco hören. Ich freue mich darauf.