Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Peter Füssl · 07. Mai 2023 · Tanz

Akram Khan Company thematisiert Klimakatstrophe in „Jungle Book reimagined“

Der aus Bangladesh stammende Brite Akram Khan gehört mit seinen eindrucksvollen und engagierten Produktionen zu den Stammgästen beim „Bregenzer Frühling“. Stand er 2014 in „Desh“, seiner intellektuell und ästhetisch gleichermaßen reizvollen Suche nach den eigenen Wurzeln, auch noch selbst als Tänzer im Mittelpunkt, so konzentrierte er sich anschließend völlig auf sein choreographisches Schaffen. Bildgewaltig und unter die Haut gehend suchte er für „Until The Lions“ (2017) im altindischen „Mahabharata“-Epos und für „Outwitting The Devil“ (2022) im sumerischen „Gilgamesch“-Epos nach zeitlos aktuellen Themen. Auch Rudyard Kiplings rund ein Dutzend Mal verfilmte, weitgehend als Kinderbuch-Klassiker betrachtete Mowgli-Erzählung aus dem 1894 erschienenen „Dschungelbuch“ unterzieht er einer Aktualisierung hinsichtlich der aktuell drohenden Klimakatastrophe. Das Publikum im Bregenzer Festspielhaus bedankte sich mit begeistertem Applaus.

„Dschungelbuch“ aktualisiert

Rudyard Kipling hat seine Coming-of-Age-Geschichte durchaus Kolonialismus-freundlich angelegt, was jemandem mit dem Bewusstsein Akram Khans eigentlich sauer aufstoßen müsste. Dieser nutzt die populäre Erzählung vom Findelkind Mowgli, das bei ihm zum Mädchen mutiert, aber lieber als Transportmittel für offenkundig dringlichere Probleme: den respektlosen und verantwortungslosen Umgang der Menschen mit der Natur im Allgemeinen und die durch die dramatischen Klimaveränderungen drohende Apokalypse im Besonderen. Mowgli wird im Sturm von einem Floß, auf dem sich seine Familie vor den Überschwemmungen zu retten versucht, gespült, von einem Wal gerettet und in einer von den Menschen verlassenen und nun von den Tieren beherrschten Stadt abgeladen. Der Rat der Tiere bestimmt, dass sie von einem Wolfsrudel aufgezogen und unter dem Schutz des Bären Baloo und des schwarzen Panthers Bagheera stehen soll. Ersterer wurde bis zu seiner Befreiung von den Menschen als Tanzbär missbraucht, letzterer fristete ein trostloses Leben in Gefangenschaft, lässt Akram Khan durch die aus dem Off gesprochenen englischen, teilweise auch auf Deutsch übersetzt auf die Bühne projizierten Texte das Publikum wissen. Und auch das Schicksal der übergriffigen Affenbande hat er zeitgemäß adaptiert, sind sie doch mit Müh und Not ihrem tristen Dasein als Labortiere entkommen. Die Schlange Kaa hat aufgrund ihrer früheren Vitrinenhaltung ein traumatisches Verhältnis zu Glasscheiben, und auf den großen Gegenspieler im Original, den Tiger Schir Khan, verzichtet Akram Khan ganz und ersetzt ihn durch einen dumm durch die Gegend ballernden und wahllos Tiere tötenden Jäger. Dieser wird von Mowgli unschädlich gemacht, der auch sonst alle Abenteuer übersteht und sich – an den neu gewonnenen Erkenntnissen gereift – entgegen dem Rat der besorgten Tiere wieder auf ein Floß begibt, wohl um zu retten, was noch zu retten ist. Happy-end? Bleibt zumindest offen.

Exzellente Tänzer:innen

Die ganze Produktion ist stark mit Texten überfrachtet, was dem Vergnügen am energievollen Tanz allerdings keinerlei Abbruch tut. Besonders die zwischen animalischem und menschlichem Bewegungsrepertoire athletisch und geschmeidig hin- und herswitchenden „tierischen“ Stars vermochten zu begeistern – mit dem tollpatschigen Baloo als Favorit der Herzen. Besonders in den Massenszenen wurden auch öfters Erinnerungen an Akram Khans Verwurzelung in der indischen Kathak-Tradition wach, die er wie kaum ein anderer mit westlichen Tanzstilen zu kombinieren versteht. Besonders eindrucksvoll gelang auch die Visualisierung der Schlange Kaa, die sich aus sechs mit würfelförmigen Pappkartons bewehrten Tänzer:innen zusammensetzte und verblüffend wendig über die Bühne schlängelte.

Starke filmische Akzente, minimalistisches Bühnenbild, opulente Musik

Miriam Buether stapelte ganze Berge von Pappkartons auf der Bühne, die als Elemente zu unterschiedlichsten Zwecken dienten – minimalistisch, aber effektiv. Genial und prägend für die gesamte zweistündige Produktion war aber die mehr oder weniger permanente Kombination von Tanz und Schauspiel mit auf zwei Leinwände projizierten Animationsfilm-Szenen. Eine Leinwand an der Rückwand der Bühne, eine transparente vorne am Bühnenrand, dazwischen die Akteur:innen. Die Londoner Videospezialisten von Yeast Culture produzierten, aus weißen Strichen modellierte, bewegte Menschen- und Tierfiguren – riesige Elefanten, winzige Mäuse, aber auch Mowglis erinnerte oder geträumte Mutter – verbanden sich auf höchst eindrucksvolle und ästhetisch ansprechende Weise mit den zehn Akteur:innen aus Fleisch und Blut. Michael Hulls zauberte die jeweils adäquate Lichtstimmung, themengemäß spielte sich vieles im Düsteren ab. Die englische Komponistin und Violinistin Jocelyn Pook, die auch im Pop-Bereich durch ihre Zusammenarbeit mit Peter Gabriel oder Massive Attack bekannt wurde, die auch für Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“ oder Michael Radfords „Der Kaufmann von Venedig“ die Filmmusik geschrieben hat und oft und gerne mit Tanzcompagnien arbeitet, hat für „Jungle Book reimagined“ einen opulenten Soundtrack geschaffen, der Stimmungen und Emotionen wirkungsvoll zur Entfaltung bringt.

Vergnügen für alle Altersklassen

Akram Khan, der 1984 im Alter von zehn Jahren in einer Londoner Tanztheaterproduktion selber als Mowgli sehr erfolgreich aufgetreten ist und sich auch schon öfters als begeisterter Vater geoutet hat, hat seine phantasievollen „Dschungelbuch“-Adaptionen generationenübergreifend konzipiert. Ein Vergnügen für alle Altersklassen und somit absolut familientauglich. Möglicherweise sollen auch die jüngeren Zuschauer:innen besonders adressiert sein, wenn er die dramatischen Bedrohungen der Menschheit, die sich gerade ein Stück weit selber auszulöschen scheint, nicht nur auf mitreißende Weise künstlerisch umsetzt, sondern auch sehr dezidiert anspricht. Zu moralisierend? Mag sein, aber an Moral und Verantwortungsbewusstsein mangelt es – nicht nur in Nehammers „Autoland Österreich“ – ohnehin an allen Ecken und Enden.

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https://www.akramkhancompany.net/