Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Markus Barnay · 19. Apr 2017 · Literatur

„Verliehen für die Flucht vor den Fahnen“ - Publikation zum Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz

Es hat lange gedauert, bis den österreichischen Opfern der NS-Militärjustiz Gerechtigkeit widerfuhr – eine Gerechtigkeit, die das einst erlittene Unrecht nicht wiedergutmachen kann, ja für die meisten Betroffenen ohnehin viel zu spät kam. Über 30.000 Menschen wurden während der NS-Diktatur von der Militärjustiz zum Tode verurteilt, und der Großteil davon wurde auch tatsächlich hingerichtet. Unter ihnen waren auch Dutzende VorarlbergerInnen, darunter bekannte Namen wie Carl Lampert (verurteilt u.a. wegen „Feindbegünstigung“), Karoline Redler („Wehrkraftzersetzung“) oder Ernst Volkmann („Wehrdienstverweigerung“), und weniger bekannte wie der Lustenauer Zöllner Hugo Paterno oder die Soldaten Martin Lorenz und Wilhelm Burtscher, die sich im Großen Walsertal versteckt hatten und von Nachbarn verraten wurden.

Die Mär von der „sauberen“ Wehrmacht


Das Personenkomittee „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“, das aus einem Forschungsprojekt zum Thema an der Universität Wien (geleitet vom Politikwissenschafter Walter Manoschek) hervorging und 2001 gegründet wurde, hatte aber vor allem die Rehabilitierung jener Menschen im Visier, die 65 Jahre nach Kriegsende noch immer als verurteilte Verbrecher galten. Der Skandal daran war unter anderem, dass ihnen die Zeit, die sie in Gefängnissen oder Konzentrationslagern verbracht hatten, bei der Pensionsberechnung nicht anerkannt wurde – im Gegensatz zu SS-Angehörigen, die als Wärter in Gefängnissen oder KZs gearbeitet hatten. Die Mär von der „sauberen” Wehrmacht, die nichts mit dem Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten zu tun hatte, war da schon längst widerlegt, was einzelne FPÖ-Abgeordnete und Funktionäre des Kameradschaftsbundes nicht davon abhielt, die Desertion aus der Deutschen Wehrmacht während der NS-Zeit mit der Fahnenflucht aus dem heutigen Bundesheer gleichzusetzen und Deserteure als „zum Teil Kameradenmörder” zu bezeichnen.

Denkmal für die Opfer der Unrechtssprechung


2009 konnte das Komitee, das tatkräftig vom ehemaligen Deserteur Richard Wadani unterstützt wurde, den ersten Erfolg verbuchen: Der Nationalrat beschloss die Rehabilitierung der Deserteure, Wehrdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer”, die während der NS-Zeit verurteilt worden waren. 2014 wurde ein Denkmal für die Opfer dieser Unrechtssprechung eröffnet – an einem prominenten Ort am Ballhausplatz gegenüber von Bundeskanzleramt und Präsidentschaftskanzlei. Zwei Jahre später, im Herbst 2016, wurde schließlich auch noch eine Art Katalog zu diesem Denkmal präsentiert – mit den Reden von der Eröffnung, Beiträgen zum aktuellen Forschungsstand, Erinnerungen von Angehörigen der Verfolgten und Auseinandersetzungen mit dem künstlerischen Wettbewerb, aus dem das Denkmal hervorging.

Dass an diesem – großformatigen, mit vielen Fotos illustrierten und großzügig gestalteten – Begleitbuch zum – etwas verkürzt – als „Deserteursdenkmal” bezeichneten Werk des Künstlers Olaf Nicolai gleich mehrere VorarlbergerInnen mitarbeiteten, ist wohl eher Zufall: Zur Gruppe der Studierenden, die 1998 mit der Erforschung des Themas begannen, gehörten Maria Fritsche, heute Dozentin an der Universität Trondheim/Norwegen, und Hannes Metzler, früher wissenschaftlicher Mitarbeiter im Parlamentsklub der Grünen und heute Assistent von Landesrat Johannes Rauch. Und die Dornbirner Stadträtin Juliane Alton, neben Metzler, Thomas Geldmacher (Obmann des „Personenkomitees”) und dem Historiker Magnus Koch Herausgeberin der Publikation, war Mitglied der Jury für das Denkmal der Verfolgten der NS-Militärjustiz. Alton steuert nicht nur ein Interview mit Wettbewerbssieger Olaf Nicolai bei, sondern auch einen Beitrag über die nicht realisierten Entwürfe, die beim (geladenen) Wettbewerb eingereicht wurden – ein interessantes Unterfangen, das auch die Überlegungen der anderen Wettbewerbs-TeilnehmerInnen öffentlich macht und einen Vergleich mit dem realisierten Projekt erlaubt.

Hugo Schönborn sprach nie über seine Desertion


Im Zentrum des Buches stehen aber die aktuellen Forschungen, die sich mit dem Umgang von Gesellschaft und Politik mit der NS-Militärjustiz beschäftigen, und die Erinnerungen von Angehörigen von NS-Justizopfern. Und auch da kommen – neben bekannten Namen wie Andreas Khol (dessen Vater den Dienst in der italienischen Armee verweigert hatte) und Markus Muliar (dessen Großvater, der Schauspieler Fritz Muliar, wegen „Wehrkraftzersetzung” in Einzelhaft saß, aber nie darüber sprach) - zwei VorarlbergerInnen zu Wort: Eleonore Schönborn berichtet über ihren Mann Hugo, der 1944 zur englischen Armee überlief. Der Vater des heutigen Kardinals Christoph Schönborn entkam der Wehrmachtsjustiz und kehrte 1946 unversehrt nach Österreich zurück. Eleonore Schönborn: „Die Geschichte seiner Desertion hat er mir ein einziges Mal erzählt, und zwar im Jahre 1946, als wir uns in Graz nach meiner Flucht aus Böhmen wieder trafen. Danach sprach er nie mehr darüber; auch seinen Kindern hat er nichts erzählt.”

„Wenn alle Nazis gestorben sind, wird uns die Geschichte zustimmen.”

Etwas anders ging der Dornbirner Textilarbeiter August Weiß mit der Erinnerung an sein Schicksal um: Er war beim Versuch, dem Wehrdienst durch die Flucht in die Schweiz zu entkommen, erwischt worden, und wurde wegen Fahnenflucht zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach 15 Monaten im berüchtigten Strafgefangenenlager Aschendorfermoor wurde er mit einem „Bewährungsbataillon” an die Ostfront geschickt und überlebte in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Auch Weiß musste nach dem Krieg zur Kenntnis nehmen, dass die Unterstützer, Anhänger und Mitläufer des NS-Regimes bald wieder mehr zu sagen hatten als dessen Gegner, und versuchte deshalb, seine Überzeugungen vor allem in der eigenen Familie weiterzugeben – gepaart mit einer großen Portion Humor, wie sein Sohn Egon berichtet. August Weiß starb 2008 und erlebte weder die Rehabilitierung seinesgleichen durch den Nationalrat noch die Eröffnung des Denkmals 2014 in Wien. Kurz vor seinem Tod hatte er in einem ORF-Interview gemeint: „Wenn alle Nazis gestorben sind, wird uns die Geschichte zustimmen, dass wir recht getan haben.“ Es ging sogar schneller, aber für August Weiß und unzählige seiner SchicksalsgenossInnen trotzdem viel zu lang.

P.S. Der Titel des Buches („Verliehen für die Flucht vor den Fahnen“) entstammt einem Gedicht von Ingeborg Bachmann („Alle Tage“), die schon 1957 Deserteure und Kriegsdienstverweigerer würdigte:

 

Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen. […]
Er wird verliehen
für die Flucht vor den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtbeachtung
jeglichen Befehls.


 

„Verliehen für die Flucht vor den Fahnen“
Buchpräsentation in Anwesenheit der Herausgeber

Mi, 26.4., 19 Uhr
Stadtbücherei Dornbirn

 

J. Alton, T. Geldmacher, M. Koch, H. Metzler (Hg.): Verliehen für die Flucht vor den Fahnen. Wallstein Verlag Göttingen 2016, 276 S., € 25,60. ISBN: 978-3-8353-1823-6

Auf der Homepage www.deserteursdenkmal.at finden sich weitere Unterlagen und eine Materialsammlung zur Verwendung in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen.