Lukas Bärfuss: „Die Krume Brot“
Von Erbmüll, fehlender Entscheidungsgewalt und versteckten Tränen
Florian Gucher · Mai 2023 · Literatur

Die Fesseln des Lebens sind oft so stramm, dass es unmöglich wird, aus ihnen auszubrechen. Lukas Bärfuss‘ Roman „Die Krume Brot“ erzählt von Wendungen und Bestimmungen, die ohne Selbsteinfluss am Leben vorbeiziehen und sich wie ein Stempel auf die eigene Existenz drücken. Anders als sein vorangegangener essayistischer Band „Vaters Kiste“ ist sein Werk diesmal nicht vordergründig vollgespickt mit philosophischen Fragestellungen, wiewohl sie unterschwellig in die Geschichte miteingebettet sind und bei genauerer Betrachtung nicht minder substantiell anmuten.

Lukas Bärfuss verleiht in seinem neuen Roman den Subalternen, jenen Menschen, die nicht Teil der gesellschaftlichen Elite sind und nur beschränkte Machtbefugnis über ihr Dasein besitzen, eine Stimme. Der in Zürich lebende Autor ist bekannt für die in seinen Werken mitschwingenden politischen Diskurse. Sie gehen oft auf die Frage zurück, wie wir bereits von Lebensbedingungen unserer Vorfahren, Erbschaften, Staatsbürgerschaften und Hinterlassenschaften vorbestimmt werden. In diesem Roman ist es nicht anders. Und doch ist die „Krume Brot“ vielleicht jenes Werk, das die Problematik der eigenen Unfreiheit auf die Spitze treibt. War es in „Vaters Kiste“ noch so, dass die Hauptfigur das Erbe seines Vaters ausschlagen konnte, bleibt der Protagonistin dieses Romanes selbst das versagt. Bärfuss gibt Einblick in eine randständige Lebenswelt ohne Aufstiegschance. Er verpackt sie in die persönliche Geschichte der resoluten Protagonistin Adelina, deren Bewegungsradius individueller Freiheit von Geburt an auf ein Minimum reduziert ist. Seines eigenen Glückes Schmied zu sein, ist dabei weit hergeholt. Adelina macht Fehler, doch sie ist chancenlos. Sie kann weder lesen noch schreiben, erbt einen Pack Schulden vom Vater ohne es zu wollen, weil sie das Erbe ihrer Mutter zuliebe nicht ausschlägt, welche Adelina dann aber im Stich lässt. Schritt für Schritt wird sie von ihrer Umgebung abhängiger. Sie bekommt eine Tochter von einem Italiener mit nur bedingter Arbeitsbefugnis in der Schweiz, der immer wieder nach Italien zurückkehren muss und irgendwann gar nicht mehr zurückkommt. Sie muss ihren Traum als Flickschneiderin gegen eine geisttötende Arbeit in einer Suppenfabrik eintauschen. Schließlich geht sie eine Beziehung aus reiner Vernunft, ohne jegliche Liebe, ein, weil er ihre Schulden begleicht und macht den Fehler ihres Lebens. Als sie wieder zurück zu ihrer alten Arbeitsstelle möchte, stößt sie auf verschlossene Türen. Am Ende wird sie noch um ihr Kind gebracht, weil ihr einziges Eigentum ihr Körper ist, über den sie in Wahrheit auch keine Verfügungsgewalt besitzt: „Du bist in die Fabrik gegangen, weil du keine andere Möglichkeit hattest. Vielleicht hättest du deinen Körper verkaufen können, wenn du verstehst was ich meine, verkaufen auf der Straße, den Männern. Es wäre verständlich und naheliegend, und wenn du es dir genau überlegst, hast du das eigentlich auch getan, als du in die Fabrik gegangen bist. Du hast deinen einzigen Besitz auf den Markt getragen", so an einer Stelle des Buches. In „Die Krume Brot" geht es um die Darlegung der prekären Lage, wie sie alleinstehende Frauen in den 70er Jahren in der Schweiz häufig erlebt haben. Aber auch darum, wie sie von Bärfuss, der seine Kindheit in diesem Jahrzehnt verbrachte, immer wieder wahrgenommen wurde. Nicht unwesentlich ist dabei das Faktum, dass es sich bei diesen Personen häufig um sogenannte „Secondos“ handelt. Das sind Kinder von Migrant:innen, die in der Schweiz eingebürgert sind. „Die Krume Brot" zeigt am Beispiel Adelinas, die dieser Gruppe angehört, auf, welchen schweren Stand sie in der leistungsorientierten Schweiz der 70er Jahre hatten. Zeitgleich, wenn auch untergründig, erinnert dieser Stand an heutige Migrationsschicksale, wodurch das Buch brandaktuell wird.

Suche ohne Anker

Den Autor interessiert, wie ein Leben von höheren Mächten der Gesellschaft, durch Sozialpolitik und Kapitalismus gelenkt wird, ohne die geringste Chance auf Veränderung zu besitzen: „Meine Intention war es, die Lebenswelt von Adelina anschaulich zu machen, sodass die Rezipient:innen sie schmecken, riechen und hören können“, so der Autor in einem persönlichen Gespräch. Bärfuss spinnt den Faden dahin, wo es um die Existenz per se geht: Was versteht man überhaupt unter freiem Willen und was sind die bestimmenden Faktoren, die über Destination und Vorsehung entscheiden? Inwiefern ist das Leben vorbestimmt? Was ist mit dem viel verwendeten, doch sperrigen Begriff des Schicksals gemeint? Alles mündet in der Frage, woran das Leben scheitert und der Erkenntnis, dass es auf manche Fragen keine Antworten geben kann, geschweige denn allgemeingültige. Bärfuss lotet in „Die Krume Brot“ das Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt, Individualität und Abhängigkeit aus. Der Roman setzt bei seiner Suche nach Antworten schon vor Adelinas Geburt an, legt die Biografien ihres Großvaters und ihres Vaters breit aus und erzählt über die Folgen vom Schweigen innerhalb einer Familie. So wissen die Leser:innen mehr über Stammbaum und Hintergründe als Adelina selbst. Schon zu Beginn der Lektüre wird der Grundstein gelegt: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, fünfundvierzig Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz. Dort hatte ihr Großvater, ein Mann namens Angelo Mazzerini die verbotenen Schriften von Cesare Battisti gelesen." Dabei gilt es natürlich zu wissen, dass Battisti ein Patriot Italiens und „Slawenhasser“ war. Das prägt den weiteren Verlauf insofern, dass der Großvater seinen eigenen Sohn aufgrund seiner slawischen Abstammung nicht vom Krieg befreit, obwohl es in seiner Macht stünde. Es trägt sich weiter in den Gewissensbissen nach der Rückkehr des traumatisierten Burschen sowie der Flucht in die Schweiz, mit all den Versprechungen, und wie sie sich bereits bei der Ankunft in Luft auflösen. Und es kulminiert dann in der Hauptfigur Adelina, wie sie am Ende Teil der Roten Brigade Mailands wird, weil sie eine Art Ermächtigung spürt, erstmals Teil einer Gruppe zu sein.
Manchmal, so scheint es, gebe der Rhythmus der Worte und Sätze die Handlung vor. Mal staccatoartig und hastig, dann wieder ausschweifend und poetisch, gehen Inhalt und Form im Werk einher. Bärfuss‘ Roman macht nachdenklich, wühlt auf. Worüber, ist komplex auszulegen: In jedem Fall über unsere Welt, über herrschende Ungerechtigkeit und Chancenungleichgewicht, über aufgebürdete Hinterlassenschaften, die alles bestimmen. Nicht zuletzt über Kapitalismus, Zweckrationalismus, Marginalisierung und hierarchisch vorgefertigte Systeme. Vor allem aber über das Schicksal einer Person, die dem Unglück geweiht ist: „Man möchte sich schützend vor die Protagonistin stellen und ihr zurufen, um sie vor einem Fehler zu bewahren. Die Unmöglichkeit einzugreifen setzt zu", so Bärfuss.

Lukas Bärfuss: Die Krume Brot. Rowohlt, Hamburg 2023, 224 S, Hardcover, ISBN: 978-3-498-000320-3, € 22,70

Buchpräsentation: „Die Krume Brot“, Lukas Bärfuss, Mod. Jürgen Thaler
Di, 30.5., 19.30 Uhr
Theater Kosmos, Bregenz
www.theaterkosmos.at

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