Leo Steinbichler: „Wir füttern die falschen Kühe. Der betrogene Konsument – Wege aus dem System“
Ein Buch, bei dem es einem schwindlig und übel wird.
Martin Hartmann · Jun 2023 · Literatur

Bauer und Aktivist Leo Steinbichler hat ein neues Buch herausgebracht: „Wir füttern die falschen Kühe. Der betrogene Konsument – Wege aus dem System“. Geschrieben wurde es mit Hilfe des Autors Thomas Schrems. Es ist ein Parforceritt – in zwölf Kapiteln geht es gegen „Ein System mit Raffinesse“, „Big Business im Kuhstall 4.0“, „Palmöl – wo Fett draufsteht, ist Regenwald drin“, gegen die AMA, Spar, REWE, Hofer, Handelsketten im allgemeinen sowie Molkereien und „die Krake Politik“. Das sind nur ein paar wenige der falschen Kühe, die laut Titel gefüttert werden, viele, viele folgen.

Leo Steinbichler, geboren 1959 in Aurach am Hongar in Oberösterreich, war von 1997 bis 2003 Mitglied des Bundesrates für die ÖVP, er wurde 2008 aufgrund seiner offenen Kritik am System aus dem Bauernbund rausgeworfen und als Bezirksbauernkammer-Obmann von Vöcklabruck abgesetzt. In den Jahren 2013 bis 2017 war er Nationalratsabgeordneter zunächst im Team Stronach, schlussendlich ein paar Monate ohne Klubzugehörigkeit. Er ist ein Unbequemer, wurde mit „Bauernrebell“ oder „Hans Dampf in allen Gassen“ tituliert. Leo Steinbichler initiierte die Projekte „A faire Milch“ und „IG Fleisch“ mit, ebenso das aktuelle Volksbegehren „Echt ehrlich“, zur Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln (Eintragungswoche 19. bis 26. Juni). Die Reaktionen auf seine Aktivitäten reichen von begeisterter Zustimmung bis zu radikaler Ablehnung.
Weitaus mehr als einmal betont der Ex-Politiker, wie „naiv“ es sei, daran zu glauben, innerhalb des Systems Politik etwas zum Guten verändern zu können.

Wider dieGiebelkreuzler

Im Buch wirft Steinbichler den Banken – namentlich der Raiffeisen und ihren Lagerhäusern – vor, die Bauern „systematisch“ abhängig zu machen und so „zu den Wohnungen und Häusern, zu den Höfen und Gründen“ zu kommen.
„Es mag uns nicht immer bewusst sein, doch Raiffeisen hat (auch ohne dass wir ein Girokonto oder einen Kredit dort laufen haben) unmittelbare und enorme Auswirkungen auf uns alle. Tag für Tag: bei der Produktion unserer Lebensmittel draußen auf den Feldern und in den Ställen, bei jedem Einkauf im Supermarkt, bei vielen Regierungsentscheidungen, ob auf Bundesebene oder in den Ländern, bei dem, was wir in Zeitungen zu lesen oder vielmehr nicht zu lesen bekommen. Denn: Raiffeisen hat die Monopolmacht über ganze Branchen – Raiffeisen bestimmt darum die Preise vieler Lebensmittel nach Belieben – Raiffeisen beschneidet die mögliche Vielfalt von Produkten – Raiffeisen beherrscht Medien, macht somit Meinung – Raiffeisen macht Politik auf höchster Ebene. Kurzum: Raiffeisen ist zu einem Moloch gewachsen, der sich verselbstständigt hat und jeder Kontrolle entzieht, zu einer tausendarmigen Krake, deren Einfluss hochgradig demokratiegefährdend ist, sodass wir nicht umhinkönnen, uns diese Frage zu stellen: Darf ein einzelner Konzern in einem Staat derartige Macht ausüben?“
Der Ton dieses Ausschnitts prägt das gesamte Buch: direkt, manchmal etwas salopp. Viele Molkereien, von denen etliche Raiffeisen gehören, betreiben Preisdumping, meint Steinbichler, sie schüchtern die Bauern ein, wenn jene direkt vermarkten wollen, machen ihren eigenen Milchlieferanten Konkurrenz mit milchfreien – und oft auf Basis von Palm- oder Kokosöl produzierten – minderwertigen Erzeugnissen.

Erpressung

Den großen Handelsketten wirft Steinbichler wörtlich „systematische Erpressung“ vor, sie würden „ureigene unternehmerische Risiken“ auf die Bauern abwälzen. Es gebe Preisabsprachen und Kartelle. Steinbichler zitiert 22 Punkte aus einer von der Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam herausgegebenen Knebelliste, die darlegt, wie Supermarktketten die Produzenten zur Kasse bitten: von Abschriftenbeteiligung (wenn Ware nicht vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums verkauft wird, also buchhalterisch abgeschrieben werden muss), über Kundendialograbatt (der Handel lässt sich ihre Treuepunkte-Aktionen von den Produzenten mitfinanzieren) bis hin zu Transportverpackungspauschale.
„Desgleichen werden Lieferstrafen in horrender Höhe verhängt. Kommt der Lkw nur um Minuten zu spät, kann dies mit bis zu 100-prozentigen (!) Pönalen geahndet werden, was einem Totalausfall für den Lieferanten gleichkommt. Je nach Produkt geht es da rasch um 20.000 bis 30.000 Euro pro Anlassfall, ja, es scheint, als hätte dieses Abgreifen von Waren zum Nulltarif System. Betroffene sprechen davon aber nur off the records. Alles andere wäre wirtschaftlicher Selbstmord mit Anlauf.“
Hätten die Bauern 1995 noch 31 % „vom Gesamtkuchen“ bekommen, seien es heute nur mehr 21 %. Sogar die Bio-Idee sei durch die „skrupellose Vereinnahmung durch den Handel und die Konzerne” pervertiert und in der Spirale von Preisdruck und dem Zwang zu immer größeren Produktionseinheiten gefangen.

AMA – Abkassieren Mangels Anstand

So heißt das Kapitel, das sich mit der seit 1993 bestehenden Agrarmarkt Austria befasst. Das AMA-Gütesiegel tragen derzeit rund 42.500 Betriebe, fast 70 % davon sind Milchviehhalter. Und es ist derzeit massiv unter Druck – durch die dokumentierten katastrophale und jegliche Tierwürde verhöhnenden Zustände in AMA-zertifizierten Schweine- und Hühnerställen (Stichwort: Tote Hühner als Putzlappen). Hier präsentiert Steinbichler eine unfreiwillig entlarvende Aussage von Katharina Koßdorff, Fachverbandsgeschäftsführerin der Nahrungs- und Genussmittelindustrie in der Wirtschafskammer vom Mai vergangenen Jahres: „Ein Beispiel für freiwillige Herkunftskennzeichnung ist das AMA-Gütesiegel. Es bietet seit mehr als 20 Jahren alles, was politisch gewünscht wird.“ Darauf Steinbichler: „Alles, was politisch gewünscht wird. Ein treffenderes (wiewohl so kaum beabsichtigtes) Vernichtungsargument für das AMA-Siegel, für das dahinter stehende System, hätte mir gar nicht einfallen können.”
Die AMA als Institution, die mit Raiffeisen, Handel und Politik gemeinsame Sache macht, nicht im Sinne der Bauern. Steinbichler spricht von der „Mär einer die Erzeugerpreise drückenden Überproduktion und Überversorgung des Landes in weiten Teilen des Agrarbereichs” und weiter: „30 Prozent des heimischen Butterbedarfs werden importiert, obwohl zugleich von staatlicher Seite auf die massive Überproduktion von Milch im Land hingewiesen wird“.
Nicht nur das AMA-Gütesiegel wird kritisiert, es werde generell mit Gütesiegeln Schindluder getrieben, selbst beim Fairtrade-Gütesiegel legt der Autor nahe, dass „getrickst” wird, ortet „Verstöße gegen Produktionsvorgaben” ebenso wie das „Betrügen”. Stein des Anstoßes und auch der Grund für den Fairtrade-Ausstieg des Chocolatiers Zotter, ist die sogenannte Mischkalkulation, „die es erlaubt, einem Fairtrade-Produkt auch nicht fair gehandelte Rohstoffe beizumengen.“ Warum dies so ist, muss die Leserschaft auf der Homepage von Fairtrade Österreich nachlesen. (www.fairtrade.at unter „Mengenausgleich“).

Vertrauen weg – überall

Leo Steinbichler schont niemanden, auch nicht NGOs. „Selbst zu weltumspannenden Unternehmen mit Zigtausenden Mitarbeitern und ähnlichen Chef-Gehältern wie bei den verfehdeten Konzernen angewachsen, treten sie als globale Meinungsmacher in Erscheinung. Ihre Botschaften sind oft ähnlich verknappt und radikal wie jene ihrer Gegner, doch das übergeordnete hehre Ziel lautet: Annäherung an die multilateralen Konzerne im Bestreben, sie zum Umdenken zu bewegen.“
„Grüne Aktien“ werden auf einer halben Seite pauschal schlecht gemacht, weil sich bei einer beworbenen „grünen Aktie“ herausstellte, dass es sich um Investment in Palmöl handelte.
Ohne deren Namen zu nennen, aber durch den Slogan „feinste Butter aus irischer Weidemilch, besonders streichzart“ erkennbar, unterstellt Steinbichler der Buttermarke „Kerrygold“ Palmöl zu verwenden. Laut Homepage des genannten Herstellers wird ausschließlich Rapsöl zu Verbesserung der Streichfähigkeit verwendet – es finden sich auch keine diesbezüglichen Einträge von Konsumentenschutzorganisationen.
Wenn es bei Pressekonferenzen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen, in Zeitungsartikeln, Radiobeiträgen oder TV-Dokumentationen um Zahlen, Daten, Fakten geht, dann werden diese bei der Bundesanstalt Statistik Österreich eingeholt. Die Statistik Austria gilt – auch für viele Journalist:innen – als Garant für seriöse Datenerhebung. Doch selbst der Statistik Austria ist laut Steinbichler nicht zu trauen. Ein Mitarbeiter, dessen Name aus Schutzgründen nicht genannt wird, bestätigte gegenüber Steinbichler, dass etwa Schlachtzahlen nicht auf Erhebung beruhen, sondern auf Schätzung. Importe bzw. Exporte unter einem Volumen von 750.000 Euro würden gar nicht erst gelistet. Man sei auf den Goodwill der Betriebe angewiesen, dass sie ihre Zahlen korrekt melden.

Fragezeichen im Kopf

Steinbichler/Schrems bringen eine unglaubliche Fülle an Missständen in ihrem Buch unter, immer wieder werden jedoch Dinge nur angeschnitten bzw. bei der Leserschaft Wissen vorausgesetzt, das wohl nicht alle haben: Was „Scheibenställe” sind, die ein bis zu „Vierfaches der Population” ermöglichen, wird nicht erklärt und lässt sich auch nicht eruieren. Wenn einem als Leser:in gerade nicht geläufig ist, was „graues Wasser“ ist, dann hilft diesmal das Internet – „als graues Wasser wird die Menge an Wasser bezeichnet, die während der Produktion so stark verunreinigt wird, dass sie als unbrauchbar gilt oder die im Prinzip dazu nötig wäre, um das verschmutzte Wasser so weit zu verdünnen, dass das Wasser wieder die Qualitätsstandards erreicht. Pflanzenschutz oder Düngemittel können Ursache für die Verschmutzung sein. Im Gegensatz zu blauem und grünem Wasser stellt das graue Wasser ein hypothetisches Konzept dar, das sich auf die Wasserqualität bezieht.“ (Naturfreunde.de)
Auch folgender Satz wird im Kapitel über Palmöl einfach mal so kantig in den Raum gestellt. „Palmitin ist genau jene Fettsäure, die im menschlichen Körper größte Schmerzen verursacht.“ Das wars, keine Erklärung, um welche „Schmerzen“ es sich handelt, was gefährlich ist. Auch hier hilft eine Online-Recherche. Der bayerische Rundfunk hat Anfang April dieses Jahres einen Beitrag dazu veröffentlicht: „Das billige Fett ist ein Entzündungstreiber. Für Menschen, die unter Rheuma oder anderen entzündlichen Krankheiten leiden, sollten mit Palmöl versetzte Produkte ein absolutes No-Go sein. Aber auch Nichtrheumatiker sollten aufpassen, denn Palmöl und die darin enthaltene Palmitinsäure wird mit einem deutlich erhöhten Sterberisiko assoziiert.“

Methan im Kopf

Besonders schwierig wird es bei Behauptungen wie solchen, dass Kühe mit ihren Hörnern „sogar Erdbeben Stunden im Voraus spüren“ – Angaben, woher diese Information stammt, finden sich keine und man macht sich auf die Suche: Der Biologe Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfszell hat Kühe besendert, um deren „Erdbebenfühligkeit“ zu eruieren – eindeutige Ergebnisse gibt es nicht, zumal sich das Verhalten von Kühen auf der Weide und im Stall unterscheidet. Was als erwiesen gilt: 10 bis 20 Sekunden vor den für uns spürbaren Erschütterungen eines Erdbebens – den sogenannten Sekundär- oder Transversalwellen – treten die Primär- oder Longitudinalwellen auf, die Tiere spüren und deshalb nervös werden.
Weiters schreiben Steinbichler/Schrems: „Die in der Kopfhöhle gebildeten Gase (ja, genau, das böse Methan!) regen die Speichelproduktion beim Wiederkäuen an.“ Das Methan wird mitnichten in der Kopfhöhle, sondern im Pansen gebildet, eine Auswirkung des Methans auf die Speichelproduktion konnte ich weder bei einer Online-Recherche, noch bei einem befragten Bauern bestätigen. Und dass die Kuh beim Enthornen „ein Drittel an Gehirn- bzw. Schädelnervenmasse einbüßt“, ist wohl etwas sehr mutig formuliert – Gehirn im Horn? Warum Steinbichler mit solchen Dingen seinen vorhandenen Kritikern eine Steilvorlage liefert, sei dahingestellt.

Fazit

Das Buch gibt Einblick in das Innenleben von Kammern und politischen Gremien, in Gespräche zwischen Leuten vom Fach, die aufgrund der Gefahr durch die „Großen“ lieber anonym bleiben wollen. Nach der Lektüre kann man sich vorstellen, unter welch miserablen Bedingungen Bauern arbeiten müssen und unter welch erpresserischen Arbeitsmethoden seitens des Handels und der Molkereien sie leiden. Dass viele Bauern eingeschüchtert und gar verängstigt sind in einem demokratischen Rechtsstaat, macht wütend.
Der Text ist dort stark, wo Steinbichler aus eigener, direkter Erfahrung berichtet, von Begegnungen mit Funktionären von ÖVP, Raiffeisen, Kammern, Bauernbund, mit Informanten und Bauern. Wenn er sich bei einer dringlichen Anfrage am damaligen Landwirtschaftsminister (und jetzigen Direktor für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) in Brüssel) Andrä Rupprechter in puncto Palmöl abarbeite, und der ihn einfach am langen Arm verhungern lässt. Wenn ihm von der BH Vöcklabruck gesagt wird, er dürfe das Ergebnis der von ihm selbst angeregten Untersuchung, ob in verschiedenen Butter-Erzeugnissen Palmöl enthalten sei, nicht einsehen – er könne sich ja Parteienstellung erkämpfen.

Ebenso beeindruckend und irritierend sind die Informationen über die harten Bandagen im Lebensmittelgeschäft. Das Buch klagt und klagt an. Allerdings ist nicht immer klar, woher die Informationen stammen, zu den 184 Fußnoten dürften sich bei dieser Dichte an Vorwürfen ruhig noch ein paar dazugesellen.
Der Text öffnet die Augen, bleibt streckenweise jedoch stecken im Anreißen von Themen. Als Überblick über die verschiedenen Stufen der Hölle, als Potpourri der Grauslig- und Grausamkeiten funktioniert das Buch. Seine Fülle ist gleichzeitig sein Problem, weil jedes der 12 Kapitel selbst ein Buch hätte werden können oder müssen.
Es hinterlässt Kapitel für Kapitel Kopfschütteln, Unverständnis, teils Wut sowie Unsicherheit und Misstrauen gegenüber weiten Teilen der Lebensmittelwirtschaft. Dankenswerterweise gibt es ein Schlusskapitel mit Empfehlungen, was besser gemacht werden sollte. Leider entfällt davon ein Gutteil auf die Politik: etwa nachvollziehbare Lebensmittelherkunft-Kennzeichnung einführen, kleine Familienbetriebe fördern, keine Freihandelsabkommen, die die heimische Produktion gefährden, kein AT-Stempel auf ausländische Tiere.

Ein Tipp für die Lektüre: es empfiehlt sich, das Buch mit einem Internet-Zugang zu lesen.

Leo Steinbichler: Wir füttern die falschen Kühe. Der betrogene Konsument – Wege aus dem System, Aufgezeichnet von Thomas Schrems, Ueberreuter Verlag, Berlin 2023, Hardcover, 266 S, ISBN: 978-3-8000-7827-1, € 26

Teilen: Facebook · E-Mail