Zwischen Hoffnung und Verlust
Ein berührender „Transit“ am Vorarlberger Landestheater
Dagmar Ullmann-Bautz ·
Okt 2025 ·
Gestern feierte das Vorarlberger Landestheater gleich zwei Premieren: „Transit“ von Reto Finger nach dem Roman von Anna Seghers – und zugleich die erste Inszenierung von Intendantin Stephanie Gräve. Ein doppelter Auftakt, der eindeutig überzeugte. Gräve gelingt mit diesem Abend ein starkes, eindringliches Debüt. Fingers Bühnenfassung verdichtet Seghers’ Geschichte von Flucht, Identität, Angst, Verzweiflung und Liebe zu einem konzentrierten, klaren Text, der trotz aller Kompaktheit Raum für Leichtigkeit und leisen Humor lässt. Entstanden ist ein Theaterabend, der mitreißt, berührt und lange nachklingt.
Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit
Paris, 1940. Seidler, ein junger Mann, gerade aus einem Konzentrationslager geflohen, soll dem Schriftsteller Weidel einen Brief von seiner Frau, die inzwischen nach Marseilles geflohen ist, überbringen. Doch Weidel hat sich am Vorabend das Leben genommen. Seidler nimmt dessen Koffer mit Papieren und Manuskripten an sich. Nicht wirklich wissend, wie es weiter gehen soll, in einer Welt, in der jeder Tag eine Herausforderung darstellt, flieht er weiter nach Marseille, um dort den Koffer abzugeben, und wird, kaum angekommen, selbst für Weidel gehalten. Er lässt die Verwechslung geschehen und gerät in ein gefährliches Spiel wechselnder Identitäten. Zugleich verliebt er sich in Weidels Frau, die inzwischen mit einem anderen Mann, einem Arzt, liiert ist. Alle Figuren sind auf der Flucht, entwurzelt, getrieben von der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit. Das Warten auf Visa und Transitpapiere wird zum Sinnbild für ein Leben im Zwischenraum – zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Aufbruch und Stillstand.
Tiefe und Glaubwürdigkeit
Stephanie Gräve übersetzt diese existenzielle Unsicherheit in ein intensives, konzentriertes Theatererlebnis. Mit feinen Zwischentönen, Blicken, kleinen Gesten und Pausen verleiht sie den Figuren und ihren Beziehungen Tiefe und Glaubwürdigkeit. Die Bühne, die sie gemeinsam mit Luisa Costales Pérez-Enciso entworfen hat, fesselt den Blick und beeindruckt mit einer ganz eigenen Ausstrahlung – mal eng und bedrückend, mal offen und weit. Das Lichtdesign von Tom Barcal unterstützt diese Wirkung äußerst sensibel und punktgenau. Die Kostüme von Luisa Costales Pérez-Enciso sind einfach wunderschön. Sarah Misturas Videoarbeiten erweitern das Geschehen visuell, bleiben immer Teil des Ganzen und drängen sich trotz Bildgewalt niemals in den Vordergrund – außer beim überwältigenden Schlussbild.
Pulsierendes Herz des Abends
Eine besondere Rolle spielt die Musik. Sie ist hier keine Begleitung, sondern pulsierendes Herz des Abends. Mal laut, drängend, fast trotzig – mal leise und kaum hörbar – trägt sie die Stimmungen und Emotionen des Stücks. Marcello Girardelli, Martin Grabher und Oliver Rath, der auch für die Arrangements verantwortlich zeichnet, erschaffen gemeinsam einen Klangraum, der das Publikum unweigerlich in seinen Bann zieht.
Großartiges Ensemble
Das Ensemble überzeugt auf ganzer Linie. Luzian Hirzel gestaltet Seidler als stillen, suchenden Menschen voller Emotionen – mit großer Ausdruckskraft, fantastischem Gesang und einer Ruhe, die fesselt. Isabella Campestrini verleiht Marie Zartheit und Unruhe zugleich, ihre Zerrissenheit ist stets spürbar, nie überzeichnet und mit ihrem Song erzeugt sie Gänsehaut. Nurettin Kalfa begeistert als Hilfskonsul mit köstlichem Humor und als verzweifelter Arzt mit Tiefe und Überzeugung. David Kopp zeigt in seinen drei Rollen – Strobel, Georg und Schauspieler – spannende Wandlungsfähigkeit, beweist Humor neben aller Ernsthaftigkeit. Und auch Rolf Mautz bewegt sich gekonnt zwischen den Emotionen und berührt ganz besonders in der Figur des Kapellmeisters. Eine außergewöhnliche Energie bringt Josepha Yen als Clown auf die Bühne: geheimnisvoll, körperlich stark, immer präsent – eine Figur zwischen Bedrohung und Poesie.
Nerv unserer Zeit
Das Publikum feierte die Premiere mit langem, begeistertem Applaus – für ein starkes Ensemble, eine eindringliche Inszenierung und einen Abend, der bleibt. Mit „Transit“ ist dem Vorarlberger Landestheater wieder einmal ein bemerkenswerter Theaterabend gelungen: ein berührendes, hochaktuelles Stück über Menschen im Ausnahmezustand, das den Nerv unserer Zeit trifft.
Weitere Vorstellungen:
7./24./25.10., jeweils 19.30 Uhr
2.11., 17 Uhr und 5.11., 19.30 Uhr
www.landestheater.org