Yuka Oishis poetisches Tanztheater „Time“ Martina Pfeifer Steiner · Feb 2023 · Tanz

Das Origen Kulturfestival steht für außergewöhnliche Produktionen im Alpenraum, es entwickelt archaische Theaterformen und interpretiert sie neu, abseits jeglichen Spartendenkens. Das große Thema im Winterprogramm ist die Zeit, und „Time“ nennt die weltweit tätige japanische Choreographin Yuka Oishi ihr eindrückliches Tanztheaterstück, das in Origens ikonischem Roten Turm am Julierpass uraufgeführt wurde. Auch für ihn läuft die Zeit ab.

„Origen“ ist rätoromanisch und bedeutet „Ursprung“. Für den Gründer Giovanni Netzer ist der Name Programm. Origen wirkt im Bauerndorf Riom in Graubünden, bespielt dort die mittelalterliche Heldenburg und eine sehr schön revitalisierte Scheune. Am Hochgebirgspass wurde der Rote Turm als temporäres Theaterhaus errichtet, das Natur und Kultur auf einzigartige Weise verbindet. Von vornherein war klar, dass das rotlasierte Holzbauwerk wieder abgebaut werden muss, Ende August ist es so weit. Grund genug, um das Thema „Zeit“ vorzugeben. Zeit – als eine vierte Dimension, die Anfang und Ende setzt.
Die Choreografin Yuka Oishi war schon bei den ersten Produktionen dabei. Sie ist der jahrhundertealten japanischen Theatertradition verbunden und bringt mit Hintergrund ihrer Ausbildung in Hamburg und als Ensemblemitglied des Hamburg-Balletts die europäische Emotion, das Ausloten seelischer Tiefen ein. Ein längst vergessenes Kinderbuch kam ihr eher zufällig wieder in den Sinn: der Klassiker „Momo“ von Michael Ende. Yuka Oishi illustriert aber nicht die Geschichte der kleinen Person mit zotteligen Haaren und der besonderen Gabe, die Menschen zu inspirieren, sie erzählt diese aus der eigenen Erinnerung heraus neu. „... diese Geschichte verbindet die Zeit und den Geist. Sie sagt uns, dass der Geist existiert, um die Zeit zu spüren, und das Leben ist in unserem Herzen. Zeit ist unsichtbar, aber sie ist auch etwas, das uns zu Lebzeiten gleichermaßen gegeben ist.“

Durchlässigkeit von Zeit und Raum 

Einzigartig ist aber auch der Ort. Der im Inneren filigran konstruierte Julierturm öffnet sich mit den vielen sakral anmutenden Bogenfenstern unmittelbar in die Weite des Himmels über den Gipfeln der Berglandschaft, macht die Natur zu Kulisse und Darsteller. Das Abendlicht changiert in unbeschreiblichen Tönen und sinkt nach Blau-lila ins Dunkle, gesprenkelt mit strahlenden Sternpunkten. Um die frei eingehängte Plattform kreisen die Zuschauerränge. Und man spürt förmlich das Ticken – zu Beginn leise, doch eindringlich mit dem Metronom – und die Bewegung – vorwärtsgehen, rastlosgehen, nebenhergehen, durcheinandergehen, miteinandergehen – der Tänzerinnen und Tänzer.
Eine berührende Momo verändert die Mitmenschen durch ihre Empathie. Es tauchen jedoch auch die „grauen Herren“ auf, die Zeit stehlen und die Menschen vergessen machen wollen, im Jetzt zu leben. Kraftvoll und mit heftigem tock-tock-tock schlagen die Absätze bedrohlich den Flamenco Rhythmus. Wie im Kinderbuch lösen sich auch diesmal die grauen Herren in Luft auf und die Retterin Momo wird auf fliegendem Teppich zu ihren Freunden zurückgetragen. Ende gut, alles gut? Nachdenklich und in tiefer Verzauberung werden die Leute mit dem Postbus-Shuttle wieder ins Tal gebracht.

MITWIRKENDE: Yuka Oishi, Choreographin; Josianne Fleming, Tomoko Kudo, Marc Jubete, Victor Fernàndez, Denis Santacana
Origen Kulturfestival 

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