Wolfgang Hermann: „Bildnis meiner Mutter“ Annette Raschner · Mär 2023 · Literatur

1994 lebte der Vorarlberger Schriftsteller Wolfgang Hermann für einige Zeit in Aix-en-Provence am Fuße der Saint-Victoire. Dort ist auch die vor einem Jahr publizierte Erzählung „Insel im Sommer“ entstanden. Die südfranzösische Stadt, die auch deshalb berühmt geworden ist, weil der impressionistische Maler Paul Cezanne aus Aix-en-Provence stammte, war offenbar ein guter Ort für Wolfgang Hermann, um über sehr Persönliches zu schreiben. In „Insel im Sommer“ (erschienen im Februar 2022) erzählt er von einem Neubeginn nach einem Schicksalsschlag, seine neue Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ ist, wie es der Titel bereits verrät, eine Hommage an seine Mutter. Sie ist im Czernin Verlag Wien erschienen.

1994 war Wolfgang Hermann 33 Jahre alt. Seine Mutter sollte in einem halben Jahr ihren 72. Geburtstag feiern. Er habe sich seit langem mit dem Gedanken eines Buches über sie getragen, schreibt Hermann. Aber bislang sei es stets beim Angedeuteten geblieben. Nun konstatiert er: „Ich habe Bilder, Erinnerungen, Fantasien. Und ich habe mein Nichtwissen: Aus diesem Nichtwissen will ich meine Kraft schöpfen.“

Das erste Bild

Die Schreinerei des Großvaters in Bregenz Vorkloster am Bahndamm. Mehrmals am Tag dampfte die Wälderbahn vorbei. Die Kinder: vier Mädchen und zwei Buben. Einer stirbt im Alter von fünf Jahren an einem unerkannten Eiterzahn. Für die Mutter wird die Schreinerei mit ihrem Geruch und der Möglichkeit des Versteckspiels hinter den Holzklaftern zeitlebens ein Ort der Sehnsucht sein. Der Autor sieht sich Fotografien an und äußerst sein Bedauern darüber, „von dieser Zeit und dieser Familie ausgeschlossen und in die meine versetzt worden zu sein“.

Eine Spurensuche

1997 ist der vielbeachtete Erzählband „In kalten Zimmern“ bei Suhrkamp erschienen. Wolfgang Hermann lässt dabei die Leser:innen in den Raum einer bedrückenden Kindheit eintauchen, die von Gefühlskälte, Enge und Angst geprägt ist. Es ist der unnahbare, herrische Vater, der für diese Atmosphäre sorgt, und auch in „Bildnis meiner Mutter“ kommt er nicht besser weg. Doch zunächst einmal erzählt der Autor von einer behüteten Kindheit der Mutter, der es an nichts mangelte: „Man war jemand. [...] An den Sonntagen fuhr die Familie mit dem offenen Steyr (sie hatten eines der ersten Autos in Bregenz!) zu den Großeltern und Onkeln ins nahe Kennelbach. Die vier Mädchen trugen weiße Kleider, die beiden Brüder weiße Matrosenanzüge.“

1938

Im beginnenden Nationalsozialismus ist die junge Anneliese voller Hoffnung auf bessere Zeiten und begrüßt „wie alle anderen die deutschen Soldaten mit Hitlergruß“. Bald gehört sie dem „Bund deutscher Mädchen“ an. „Meine Mutter genoss die Lagerfeuer, das gemeinsame Singen und Wandern mit den Burschen aus der HJ, ein neuer Wind wehte im Land, es ging aufwärts, ringsum sprach man von einer großen Zukunft, der man entgegengehe. Meine Mutter interessierte sich nicht für Politik, mehr für das Zusammensitzen und das Singen.“ An späterer Stelle notiert Wolfgang Hermann: „Sie war wirklich ahnungslos gewesen, oder hatte es sie ganz einfach nicht interessiert?“
Noch sind die Träume groß, noch KANN Anneliese träumen. Sie sieht sich Zeit ihres Lebens als berühmte Sängerin an der Seite eines Kavaliers, der sie auf Händen trägt. Doch zunächst holt sie ein reicher Onkel aus München, der es als Bauunternehmer in der Nazizeit zu Wohlstand gebracht hat, zu sich nach München. Sie wird Hilfskraft des Hauptbuchhalters. Zurück in Bregenz kommt sie bei einem weiteren Baumeister unter. Sie ist fleißig und brav, katholisch und unschuldig. Er ein Casanova, ein Schwerenöter. Ihr Herz verliert sie für kurze Zeit an ihn, ihre Unschuld hingegen nicht. Auch nicht, als sie der einzigen großen Liebe ihres Lebens begegnet. Er heißt Gerd, studiert Chemie und ist der Sohn ihrer Gesangslehrerin, die ihre Mutter in Mauthausen verloren hat. Warum sie ihrer frischen Liebe keine wirkliche Chance gibt, lässt Wolfgang Hermann offen. Am Dreikönigstag 1950 lernt sie jedenfalls bei einem Tanzabend im Gasthof „Hirschen“ in Dornbirn ihren künftigen Ehemann und Vater ihrer fünf Kinder kennen: Einen Architekten mit guten Manieren, über den die Eltern zunächst erfreut sind, weil er „ein richtiger Vorarlberger“ und „kein dahergelaufener Jude“ ist. Doch die Freude ist bald vorbei, weil er aus einer „roten“ Familie stammt. Von da an nennen sie ihn nur „den Kommunisten“. Zeit ihres Lebens wird Anneliese bereuen, ihn kennengelernt zu haben, „und wir fünf Kinder, später, viel später, unglücklich über unseren Vater, der hart, unnahbar, voller Prinzipien und unerfüllbarer Maßstäbe sein würde, bereuten mit ihr“.

Verlorene Träume

Wolfgang Hermann erzählt die traurige Geschichte einer Frau, die ihre Talente nicht entfalten und ihr Leben nicht leben konnte, und beim Lesen mancher Sätze vermeint man die Stimme unzähliger anderer Frauen zu hören, denen es in dieser Zeit genauso ergangen ist. Annelies ist stark, aber abhängig. Sie arbeitet unentgeltlich im Büro ihres Vaters und ebenso unentgeltlich als Sekretärin im Büro ihres Mannes. Sie ist klug, geschäftstüchtig und künstlerisch begabt, aber sie wird ein ums andere Mal schwanger und bekommt dann Vorwürfe ihres Mannes zu hören, weil sie „so fruchtbar“ sei. Er kontrolliert sie und die Kinder, und er ist ein unerbittlicher Geizhals. Das wird auch nicht besser, als der Erfolg kommt. „Vater hielt Mutter bei jeder kleinsten Anschaffung zum Sparen an, ihre Kinder mussten mit dutzendfach geflickten Socken, Strümpfen, Hosen, in ewig denselben alten Pullovern in die Schule.“
Wolfgang Hermann schafft einen scharfen Gegensatz. Hier die gesellige, fürsorgliche Mutter – da der kalte, harte Vater. In den Zeilen über sie schwingen Liebe und Stolz mit, in jenen über ihn ist es vor allem Scham. Und er fragt sich, wie es so weit kommen konnte und findet eine psychologische Erklärung: „Meine Mutter wurde von ihrem Vater sehr geliebt. Die fanatische Religiosität ihrer Mutter: War da nicht ein Leerraum, der sich auftat, durch nichts erfüllbar?“
Am Ende (die letzten 20 Seiten sind im vergangenen Jahr entstanden, die Mutter ist bereits gestorben) hadert er am „Ungenügen am hier Gesagten“: „Und wollte ich nicht insgesamt geduldiger, tiefatmiger über meine Mutter nachsinnen?“ Dabei ist es auch bei diesem Buch wieder die Feinfühligkeit, die beeindruckt und die praktisch alle Texte von Wolfgang Hermann auszeichnet. Man leidet mit ihm als Sohn und vor allem mit ihr. Denn: „Ihr blieb die Sehnsucht nach einem Leben im Zeichen der Muse, immer.“

Dieser Artikel ist bereits in der KULTUR-Print-Ausgabe / März 2023 erschienen.

Wolfgang Hermann: Bildnis meiner Mutter. Erzählung. Czernin Verlag, Wien 2023, Hardcover, 120 Seiten, ISBN: 978-3-7076-0788-8, € 20

Buchpräsentation, Mod. Jürgen Thaler
20.4., 19.30 Uhr
Theater Kosmos, Bregenz
www.theaterkosmos.at

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