Wirre Karussellfahrten und unbewusste Lebenslinien
Daniel Nachbaur: „Drauflos“
Florian Gucher · Mär 2024 · Literatur

Wir leben auf tragikomische Weise aneinander vorbei: In seinem Roman „Drauflos“ lässt Autor Daniel Nachbaur eine Vielzahl konträrer Lebenswelten aufeinander los, die sich dann doch – ungeahnt und auf Umwegen – irgendwie tangieren. Dabei strapaziert der Vorarlberger Schriftsteller die literarische Gattung des Romans mit einem chaotischen Mix an Episoden und episodenhaften Lebensbestrebungen. Am Ende ist es der ewige Plot des Lebens als Protagonist, der den Roman zum Roman macht.

Zu Beginn wirft ein Krankenhauspatient seinen Blick aus dem Fenster. Er nimmt auf einem gläsernen Treppenaufgang einen Mann im weißen Kittel wahr, der auf oberster Etage einfach stehenbleibt, als sei er von allen Kräften verlassen. Ihm wird der Ball zugespielt und der Reigen an Erzählungen hangelt sich weiter und weiter. Am Ende des Buches ist es abermals das Treppenhaus, das im Zentrum steht. Zu sehen: Eine frischfröhliche Schwester im Aufgang sowie ein geknickter Pfleger ganz unten, die sich ohne es zu wissen im selben Lebenskarussell auf und ab bewegen. Dazwischen tun sich ihre Geschichten als scheinbar lose zusammenhängende Storys mit eigentümlichen Wendungen auf. Da steht ein Lobbyisten-Netzwerk vor dem Zusammenbruch. Dort erlaubt sich ein selbsternannter Präsident für Käsekultur per Beschwerdebrief an die Lebensmittellogistik einen Scherz. Mittendrin mischen ein Aristoteles zitierender Onkel, eine verschwundene Wirtshaus-Ikone sowie ein Künstler, dem plötzlich „eine Laus über die Leber läuft“, mit. Nach und nach entschlüsseln sich die Verbindungslinien, die die Figuren zueinander aufweisen. Wie sehr unsere Leben in Verflechtungen miteinander verschränkt sind, zeigt sich erst sukzessive, als beispielsweise ein Dramatiker als Protagonist des Romans seine Corona-Ansteckungskette nachverfolgen muss. Mehrmals sind es jene Dinge, die das Leben beeinflussen, welche wir aufgrund unserer Begrenztheit gar nicht überblicken können, die als Triebfeder des Romanes von einer Seite zur anderen gleiten lassen. Man hat dabei die von Nachbaur als Metapher ins Spiel gebrachte Fliege im Kopf, die in diesem engen Krankenhauszimmer umherschwirrt, sich an einer Fensterscheibe abarbeitet, doch ständig an ihr abprallt und unfähig ist, auszubrechen. Sie ist Symbol für den Menschen und seine räumliche Beschränktheit als ihm auferlegte Unfähigkeit, in den unerreichbaren Sehnsuchtsraum außerhalb seiner selbst auszubrechen. „Oft werden die Protagonist:innen in Situationen eines kühnen Drauflos abgebildet. Sie unternehmen einen Versuch, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, scheitern daran und werden von den Umständen in eine neue Bahn gelenkt. Der Titel deutet auch auf diese Bewegung in den Raum hin, die etwas Spontanes, Gewagtes und vielleicht auch Ungestümes hat“, so Nachbaur. Darauf basierend fragt der Autor zwischen den Zeilen nach Triebmotoren von Bestimmung und Zufall. Er lässt einen Güterzug von einer die Gleise überquerenden Katze zum Stillstand bringen. Dann lässt er ein wenige Sekunden vor dem Aufprall einer Tanne vorbeifahrendes Auto gerade noch so davonkommen. Er spannt ein Netz an digitalen Kontakten auf, die von einem Kontinent zum anderen gehen und sich gegenseitig lästig sind. Wenn ein Neffe seinen Onkel flugs in jenem Moment, in welchem dieser von einem Anlagebetrüger betroffen ist, mit einer spaßigen Nachricht bombardiert, sieht man, wie das Leben laufen kann.

Sprache als Abbild 

Nachbaur erzählt metaphernreich, die Stimmungswiedergabe der Figuren ist mit Vergleichen versehen. Der in Feldkirch geborene Autor, der auch promovierter Literaturwissenschaftler ist, setzt sprachliche Symbole und Sinnbilder nüchtern und gekonnt ein. Ohne in eine blumige Sprache zu kippen, gilt seine Liebe den Details, die nicht nur Wendepunkte im Werk setzen, sondern aus denen sich die Konturen des Figurenpersonales erst ableiten lassen. In der Hinsicht lässt sich „Drauflos“ durchaus mit seinem letzten Erzählband „Soll es brennen“ vergleichen. Die beiden Werke haben vieles gemeinsam: Sie erheben die kleinen Ungereimtheiten zu existentiellen Entscheidungsmotoren – und zwar über Leben und Tod, Glück und Unglück, Schicksal und Fügung, über Alles und Nichts – und sind am Episodischen des Lebens interessiert. In „Drauflos“ geht der Autor noch einen Schritt weiter, indem er die Geschichten ineinander verschachtelt. Der fließende Übergang zwischen den Kapiteln – oftmals sogar in einem sich darüber hinziehenden Satz – ist formal ein kluger Schachzug, der mit dem Inhalt einhergeht. Mal mündet der Satz in der Fortsetzung der Story, mal mündet er in einer neuen Geschichte: „Ich habe versucht, die Spannung aus der Abfolge der Geschichten entstehen zu lassen. Die Protagonist:innen sind in ein- und derselben Geschichte verwoben, sie wissen gar nicht, wie sehr sie sich beeinflussen.“ Könnten die vielen Handlungsstränge auch als einzelne Kurzgeschichten funktionieren, ist es hier in Kontradiktion zu „Soll es brennen“ gerade entscheidend, dass sie es nicht tun. Sie verweben sich zu einer Symphonie über das Leben. So weit entfernt manches auch anmutet, Nachbaur zeigt auf, dass es die gleiche Welt ist, in der sich die Protagonist:innen trotz verschiedenster Interessen und Perspektiven aufs Leben befinden. 

Bewegungen von außen nach innen

Interessant ist, wie Nachbaur dann wieder in Analogie zu seinem Erzählband innere Zustände des Figurenpersonals mit äußerlichen Phänomenen parallelsetzt. Die Landschaft draußen mit den Tälern und Erhebungen, mit ihren Aufs und Abs, wird der inneren Landschaft gegenübergestellt. Mitunter können auch soziale Gegebenheiten als Spiegel des Ichs fungieren. Mal ist es der wirbelnde Schnee der Beklemmung heraufbeschwört, dann wiederum der heruntergekommene Italiener um die Ecke, der den Seelenzustand einer Figur widerspiegelt: „Er war inzwischen alt und dick und seine Hüften waren kaputt. Seine Küche war schlecht. Manchmal hatte er frische Austern, die genießbar waren. Viel konnte man da ja auch nicht falsch machen, aber sie wurden lieblos serviert, meistens vergaß er sogar die Zitronenscheiben. Trotzdem hatte ich Monique ausgerechnet dorthin eingeladen. Warum nur? Hatte ich ihr etwa unbewusst mein Inneres zeigen wollen?“, so ein Zitat aus dem Roman. 
Letztlich kann es vor dem Hintergrund dieser Geschichte nicht anders sein, als dass sie wieder in diesem engen Krankenzimmer mündet. Ein Kreis schließt sich. Diesmal das Sterbebett, das auf jede:n von uns wartet. Es ist frisch bezogen, nichts erinnert mehr an den Patienten von vorhin. Er ist von der Bühne abgetreten. Diesmal blickt die Krankenschwester an seiner Stelle durchs Fenster aufs Treppenhaus. Dort spinnen sich die ungeahnten Begegnungen weiter fort. 

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR März 2024 erschienen.

Daniel Nachbaur: Drauflos. Edition Tandem, Salzburg 2024, 192 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-904068-98-7, € 22,00

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