Werner Schelling: „Ein Lehrerleben in Vorarlberg. Albert Schelling (1918–2011)“
„Ein Weltbürger wollte ich sein!“
Severin Holzknecht · Feb 2024 · Literatur

Der ehemalige Geschäftsführer des AMS-Vorarlberg und Bregenzer Vizebürgermeister Werner Schelling hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Leben seines Vaters, des Lehrers Albert Schelling, auseinandergesetzt. Resultat dieser Auseinandersetzung ist ein kleines Büchlein mit dem Titel „Ein Lehrerleben in Vorarlberg. Albert Schelling (1918–2011)“, ein Stück nicht ganz alltäglicher Alltagsgeschichte.

Albert Schelling wurde am 5. Juni 1918 in Wolfurt als Sohn des Maschinenschlossers Gebhard Schelling und dessen Frau Josefine geboren. Er wuchs behütet – man will sagen beinahe zu behütet – auf, und zeigte bereits in jungen Jahren überdurchschnittliche Anlagen. Die finanziellen Mittel der Familie und vielleicht auch der Wunsch der Mutter, ihr Nesthäkchen noch länger möglichst nahe bei sich zu haben, ließen den Besuch des Bregenzer Gymnasiums jedoch nicht zu, weswegen sich Albert stattdessen mit der dortigen Hauptschule in der Belruptstraße begnügen musste. Albert hätte gerne Medizin studiert, war aufgrund ökonomischer und formaler Zwänge jedoch angehalten, sich umzuorientieren. Der Lehrberuf sollte es werden. Albert Schelling begann mit dem Schuljahr 1934/35 die vierjährige Ausbildung an der Privat-Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch-Tisis – eine Festung des politischen Katholizismus in Vorarlberg. Die Erste Republik hatte in den vorangegangenen Monaten ihr endgültiges Ende gefunden und war dem austrofaschistischen „christlichen Ständestaat“ gewichen. Die bereits vor dem Dollfuß‘schen Staatsstreich katholisch geprägte Heranbildung der Junglehrerinnen und -lehrer wurde im Sinne des Regimes noch stärker ideologisiert – wie etwa die intensive Beschäftigung mit dem „Märtyrerkanzler“ Engelbert Dollfuß im Rahmen des Lehrplans bezeugt. Eine stark reglementierte und kontrollierte Freizeitgestaltung, zahlreiche Messen mit Teilnahmepflicht sowie die wenig subtile Indoktrination im Sinne des Austrofaschismus verstärkten bei dem ohnehin nicht allzu frommen Albert Schelling die Abneigung gegenüber der Kirche, dem Glauben und dem Regime im Allgemeinen. Nichtsdestotrotz hielt er sich von jenen Kommilitonen fern, die im März 1938 euphorisch den „Anschluss“ begrüßten und die „systemtreue“ Lehrerschaft dies auch wissen ließen. Albert Schelling hielt zeitlebens Distanz zu den herrschenden Ideologien, vor allem den autoritären – ein Weltbürger wollte er sein.

Individuelles Glück im allgemeinen Unglück

Nach Abschluss seiner Ausbildung in Feldkirch-Tisis musste Schelling zum Reichsarbeitsdienst einrücken, um direkt im Anschluss im Herbst 1939 zur Wehrmacht eingezogen zu werden – Deutschland und Europa befanden sich im Krieg. Die ersten Kriegsjahre verbrachte Schelling in einer Kaserne im oberbayrischen Lenggries, wo er als Küchenbuchführer einen vergleichsweise ruhigen und angenehmen Posten innehatte – individuelles Glück im allgemeinen Unglück. In Bayern lernte Schelling seine spätere Frau Brigitte kennen und lieben. Das junge Paar heiratete kurz bevor Schellings Kompanie nach Savoyen verlegt wurde. Auch in Frankreich blieb Albert Schelling fürs Erste von den ärgsten Kriegshärten verschont. Dies änderte sich jedoch mit der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und der zunehmenden Partisanenaktivität in der Region. Partisanen waren es auch, die Schelling und einige seiner Kameraden im Spätsommer 1944 gefangen nahmen und festsetzten. Für Schelling war damit zwar der Krieg zu Ende, die persönlich härteste Zeit stand ihm jedoch noch bevor. Mangel und Gefangenschaft setzten dem einfühlsamen Menschen zu. Erst im Jänner 1946 durfte Schelling in das mittlerweile unter französischer Militärverwaltung stehende Vorarlberg zurückkehren. Der Krieg hatte Schelling physisch und psychisch gezeichnet. Während jedoch die körperlichen Strapazen irgendwann überwunden waren, sollten die mentalen Wunden, die Krieg und Gefangenschaft geschlagen hatten, bis zu seinem Lebensende nicht vollkommen verheilen. Depressionen und depressive Phasen wurden zu ständigen Begleitern, was in einer Gesellschaft, in der eine solche Krankheit noch keineswegs akzeptiert wurde, eine besondere Belastung bedeuten musste. Zumindest das nähere private und berufliche Umfeld scheint, wie den Zeilen seines Sohnes zu entnehmen ist, Schelling gegenüber immerhin Verständnis gezeigt zu haben.
Kaum aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, wurde der Junglehrer Albert Schelling, bar jeder praktischen Erfahrung, als Lehrer und Direktor an eine Kleinschule im Alberschwender Ortsteil Dreßlen versetzt. Eine herausfordernde Zeit für den vom Krieg gezeichneten Albert und seine Frau Brigitte aus dem pfälzischen und städtisch geprägten Landstuhl. Der jungen Familie, in Alberschwende wurden Werner Schelling und dessen Bruder Rainer geboren, gelang es nie, sich in der noch stark von katholischen und bäuerlichen Traditionen geprägten Gemeinde einzuleben, weshalb Albert Schelling 1953 eine Stelle als Volksschullehrer in Lochau annahm. Bis zu seiner Pensionierung 1979 blieb Lochau die berufliche Heimat Schellings. Er starb hochbetagt 2011.

Auswirkungen „großer Politik“ auf „kleine Leute“

Werner Schelling legt den Schwerpunkt dieses kleinen, aber feinen Büchleins auf das erste Lebensdrittel seines Vaters, also die Zeit von den Jugend- und Ausbildungsjahren bis zur Rückkehr aus der französischen Kriegsgefangenschaft, um nach einer kurzen Schilderung der vielgestalten Herausforderungen in Alberschwende-Dreßlen eher kursorisch die zwei weiteren Lebensdrittel seines Vaters abzuhandeln. Dies ist einerseits vielleicht mit der Quellenlage zu erklären, andererseits betont Schelling wiederholt, dass wohl vor allem die ersten 30–35 Lebensjahre seines Vaters für die Leserschaft außerhalb der Familie Schelling von Interesse sein könnten. Und in der Tat zeigt Albert Schellings Werdegang, welche Auswirkung die „große Politik“ auf die „kleinen Leute“ haben kann und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch oft hatte. Menschliche Tragödien und unverhofftes Glück prägten so manches persönliche Schicksal. Albert Schelling war ein Humanist, der mit den autoritären und totalitären Ideologien seiner Zeit genauso wenig anfangen konnte, wie mit dem allumfassenden Anspruch der katholischen Kirche auf Leben und Seelen der Menschen. Er war Humanist, ob aus erarbeiteter Bildung, innerem Antrieb oder vielleicht auch einer Mischung aus beidem, muss unbeantwortet bleiben. Weltbürger wollte er sein und musste dennoch in einen Krieg ziehen, der ihm nicht gerecht erschien. Während Millionen den NS-Wahn mit ihrem Leben bezahlen mussten, überlebte er immerhin – wenn auch gezeichnet – und fand, so lässt sich aus den einfühlsamen und liebevollen Worten seines Sohnes Werner schließen, doch noch ein wenig Frieden und persönliches Glück.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Februar 2024 erschienen.

Werner Schelling: Ein Lehrerleben in Vorarlberg. Albert Schelling (1918-2011). Bregenz 2023, gebunden, ISBN 978-3-85298-247-2, € 19,90

 

 

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Albert Schelling als „prisonnier de guerre“ im Lager Annecy-Novel, Frankreich

 

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An der Volksschule Alberschwende-Dreßeln unterrichtete Albert Schelling von 1946 bis 1953.

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