Webfehler
Mit „Stickstoff“ präsentiert Brigitte Walk einen Parforceritt durch die Geschichte der Vorarlberger Textilindustrie.
Ingrid Bertel · Okt 2023 · Theater

Eine Fashion-Installation empfängt die Besucher:innen des Alten Hallenbads. Maria Kloser und Magdalena Vuksic, Schülerinnen der HTL Dornbirn, haben unter anderem die Arbeitsbekleidung von Sklaven auf einer Baumwollplantage im Süden der USA nachgeschneidert – Rock, Leinenbluse und eine Schürze mit einem Sack für die gepflückte Baumwolle. Warum? „Stickstoff“ geht der Geschichte der Textilindustrie in Vorarlberg auf den Grund. Und das hat, auch wenn davor noch nie die Rede war, mit Sklaverei in jeder Hinsicht zu tun.

Idee und Recherche für das Stück gehen auf die Soziologin Anette Baldauf und die Dokumentarfilmerin Katharina Weingartner zurück, die seit drei Jahren am Thema des Dreieckshandels zwischen Afrika, den ehemaligen Südstaaten der USA und Vorarlberg arbeiten. Sie haben soeben den ersten Teil ihres Films abgedreht, großteils mit eben jenen Akteur:innen, die im Theaterraum über Videoeinspielungen Interviews geben. Regisseurin Brigitte Walk offeriert also ein opulentes Tableau aus Basisinformationen und versucht dann, im eigentlichen Bühnengeschehen, ziemlich viele Fäden zusammenzuhalten.

Komm, Herr Jesus, sei unser Gast!

Die Bühne selbst (Bauten: Roland Adlassnigg) wirkt wie ein Kinosaal. Auf leicht erhöhten Plätzen folgen die Zuschauerinnen dem Geschehen. Die vierte Seite wird mit Videos von Sarah Mistura bespielt – sie mischt die Gesichter der Schauspieler:innen mit jenen der historischen Gestalten. Die weißen Bodenmarkierungen erinnern an Lars von Triers „Dogville“. In den so abgegrenzten Räumen sitzen Frauen an historischen Nähmaschinen, löffeln Maria Fliri und Helga Pedross aus leeren Tellern zum Rhythmus von „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“. Peter Bocek macht sich als dritter im Schauspielensemble so seine Gedanken über den Gast und die Bescherung.
Es sind starke Bilder, packende erste Impressionen. Allerdings spannt der Text von Amos Postner einen weiten Bogen über jene nahezu 200 Jahre, in denen die Textilindustrie der bestimmende Wirtschaftsfaktor Vorarlbergs war. Das reicht von der Gründung der Firma Ganahl (erste mechanische Webstühle der Monarchie) und ihrer Verbindung zu Baumwollplantagen-Besitzern und Sklavenhändlern bis zum Stickerei-Boom in Lustenau in den 1970er Jahren und der Rolle der sogenannten „Gastarbeiter:innen". Postner reißt also viele Themen an. Allzu viele. Nichts wird wirklich konkret fassbar. Vieles bleibt unverständlich.
Was hat es zum Beispiel mit jenem Brief auf sich, in dem Vater Ganahl seinen Sohn davor warnt zu rauchen? Das sei teuer und gesundheitsschädlich. Lustig, aber der eigentliche Inhalt des Briefes bleibt unverständlich, da die firmeninternen Zusammenhänge, etwa die Verbindungen zu den Baumwollplantagen Georgias im Stück keine Rolle spielen. Einordnen können dieses Zitat also nur sehr versierte Historiker:innen.
Oder es fällt das Schlagwort vom Importverbot in Nigeria. Aber wer außer der älteren Generation der Lustenauer Sticker kann ermessen, was das für die heimische Stickerei bedeutete? Oder aber ein Sticker ist sehr bedacht auf die Mathematik-Kenntnisse seines Sohnes. Um zu verstehen, warum ihm das so wichtig ist, muss man schon eine Ahnung haben von den Arbeitsprozessen, die die Lustenauer Stickerei ausmachten. „Stickstoff“ ist gefangen in Insider-Wissen, das nur entschlüsselt, wer sich mit der Thematik bereits beschäftigt hat – und weil es eine im Bewusstsein des Landes bislang überhaupt nicht präsente Thematik handelt, ist der Text wohl einfach überambitioniert.

Noi siamo fratelli Moretti

Wo der Text Fakten aufzählt und Miniportraits präsentiert, sollen Tanzszenen die Konflikte spürbar machen. Die Musik dazu ist seltsam vager Synthetik-Pop mit der einzigen Funktion, klare Beats für die in Gruppen agierenden Schauspieler:innen und die Soli des Tänzers Aly Khamees zu liefern. Durchsetzt wird das musikalische Geschehen von bekannten Spottliedern wie jenem von den „Fratelli Moretti“, bei denen man sich allerdings fragt, was sie mit den mafiösen Geschäften der Lustenauer Sticker nach dem Importverbot Nigerias zu tun haben.
„Stickstoff“ – der Titel ist genial – bringt lauter gute, vitale Ideen. Nur verbinden sie sich niemals zu einer nachvollziehbaren Geschichte. Das ist der Webfehler in einem allzu dicht geknüpften Gewebe.

walktanztheater.com: Stickstoff – Ein Theaterprojekt zur Textilgeschichte Vorarlbergs
22./23./24./25./26./27./28.10. jeweils 19.30, 29.10., 11 Uhr
Altes Hallenbad, Feldkirch

https://www.walktanztheater.com/Projects/stickstoff/

 

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